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Das Originalöffentlicher Roman von Jörg Czech Rohfassung / Entstehung
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Herr Wagner hatte das Bett sehr früh verlassen. Besucher waren so zeitig zwar nicht zu erwarten, aber geschlagene vier Stunden stand er an diesem Morgen schon am Fenster. Gelegentlich schaute das Pflegepersonal nach ihm oder brachte etwas zu essen und zu trinken. Ihr Engagement war aber weit entfernt von fürsorglichen Pflegediensten. Die rasante Verwahrlosung interessierte sie offensichtlich nicht. Patienten ohne funktionelle körperliche Einschränkungen schienen keinen Anspruch zu haben, gewaschen zu werden. Er war ungepflegt und blieb es voraussichtlich für den Rest des Tages. So wie am Tag zuvor, als er bis in den Abend hinein ebenfalls vor dem Fenster gestanden hatte. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, einen Stuhl heran zu schaffen. Die Pflegekräfte ließen ihn gewähren und stehen. Morgenjunges Sonnenlicht blinzelte durch das Fenster. Hübsche Vögel boten lustige Tänze dar. Sie sangen, was das Talent hergab, schlugen ihr Gefieder auf und imponierten, hüpften oder flogen kleine Runden über freundlich winkende Frühlingsblumen. Markus Wagner nahm es nicht wahr. Für Lockungen der Natur war er nicht mehr empfänglich. Seit seinem Unfall vor fünf Tagen wirkte er verloren und eingefallen. Auch ein Boxkampf hätte ihn nicht beeindruckt. Obwohl er den Boxsport liebte. Körperlich hatte er den spektakulären Unfall, über den auch in den überregionalen Nachrichten berichtet worden war, wie durch ein Wunder unbeschadet überstanden. Kaum ein Kratzer war zu sehen. Aber seit der Kollision dominierte unter seiner offensichtlich recht stabilen Schädeldecke vor seinem inneren Auge eine Szene aus den Erlebnissen seines Zeitspiegelbildes, wieder und wieder im Wechsel mit den Bildern des Unfalles. Er würdigte die Szene seit dem Unfall gesichert als Schlüsselerlebnis für sein originales Leben, oder vielmehr für dessen Ende, so bedeutsam wie seine Geburt.
Einundzwanzig Jahre lag die Zeitspiegelung zurück. Mit vierzig Jahren hatte er sich gemeinsam mit Sarah in der Zeit spiegeln lassen. Sie wurden fünfzig Jahre weit in die Zukunft verschränkt, aus dem Jahr 2073 in das Jahr 2123. Als Originale blieben sie in der Gegenwart, während ihre gleichaltrigen Zeitspiegelbilder fünfzig Jahre später in einer ungewissen Zukunft leben sollten. Sein Zeitspiegelbild hatte gleich nach ihrer Ankunft gefragt, ob ihre Originale noch leben. Niemand hatte ihnen vor der Verschränkung gesagt, dass sie als Originale die ersten Tage der Spiegelung miterleben würden. Markus der Zweite konnte nicht wissen, dass sein Original die Frage - und vor allem die Antwort - in der Vergangenheit ebenfalls hören würde. Die quälenden Einblendungen in Wagners Gehirn übergingen die Frage und lieferten nur die Antwort, die Professor Uhlmann mit offenem Blick in die Augen gegeben hatte, beziehungsweise in der Zukunft geben könnte: „Leider nicht! Sie sind schon vor etwas dreißig Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen.“ Mark ─ so stellte er sich den Personen vor, mit denen er auch ein persönlicheres, freundschaftliches Gespräch führen würde ─ quälte insbesondere die Frage, was vor 'etwa' dreißig Jahren bedeutete. Seit 'etwa' seinem achtundfünfzigsten Lebensjahr traktierte ihn diese Frage. Das Zeitspiegelbild hatte sie nicht gestellt. Warum auch? Er ─ das Zeitspiegelbild ─ lebte ja; in der Zukunft.
Sarahs Zeitspiegelbild hatte die Auskunft erhalten, ihr Original sei mit vierundachtzig Jahren an Altersschwäche gestorben. Nun wartete er ungeachtet des noch zu jungen Tages auf sie. Vielleicht könnte sie ihn erlösen. Nachdem sie von seinem Unfall erfahren hatte, sah sie sich veranlasst, ihn entgegen aller Vorsätze zu besuchen. Einen konkreten Termin nannte sie nicht. Sie wolle 'bei Gelegenheit' herein schauen, ließ sie durch das Klinikpersonal unverbindlich mitteilen, äußerte aber ihre Freude, dass er noch lebte.
Sarah! Immer noch Sarah Wagner! Einundzwanzig Jahre lang hatte er sie nicht gesehen, nicht mit ihr gesprochen. Mit starrem Blick auf den schmalen, mit weißen Randsteinen gesäumten Betonweg lenkte Mark sich von seinem Trauma ab. Er malte ein anderes Bild vor sein inneres Auge. Auf dem kam Sarah fast schwebend den Weg herauf und lächelte ihm entgegen. An die fragwürdigen Vorgänge vor einundzwanzig Jahren dachte er nicht. Er wollte sie sehen, ihre Stimme hören und ihre Anwesenheit spüren. Auch an Berührungen dachte er nicht. Soweit er überhaupt denken konnte. Sicher hatte sie Angst, dass Professor Uhlmanns Antwort Realität werden könnte. Nicht wegen ihm. Vielleicht doch, ein wenig; oder sogar mehr? Nein, um sich selbst wird sie sich sorgen, dachte er, obwohl ihr – im Gegensatz zu ihm – noch dreiundzwanzig Jahre blieben. Beide waren jetzt einundsechzig Jahre alt. Vielleicht wollte sie nur wissen, ob sie bis zu ihrem vierundachtzigsten Lebensjahr unsterblich war. 2
An der letzten Straßenecke zu ihrer Wohnung verließ er das Fahrzeug und genoss zu Fuß und zufrieden die letzten Meter unter den imponierend dicht gewachsenen Alleebäumen. Das frische Grün der Blätter hatte eine belebende Wirkung, die nun, nach Abschluss seiner Spiegelung, Auftrieb für das 'alte' Leben versprach. Er sah sie wieder vor sich, wie sie schwer atmend auf dem breiten Bett landeten und ohne Hast und Eile mit voller Hingabe die Liebe in der Zukunft besiegelten. Leidenschaft und ein bedingungsloses Vertrauen hatten sie wieder gespürt. Daran wollte er festhalten. Er freute sich auf Sarah. Sie hatte das Institut bereits einen Tag vorher verlassen können, wurde ihm berichtet. Über die Geschehnisse in der gespiegelten Zeit würde er nicht sprechen. Das Verschließen einer Tür war ihm wie ein Symbol für Entschlusskraft, ein Zeichen von Tatendrang. Es hatte immer etwas Erhabenes, sich auf den Weg zu machen, es war wesentlicher Teil des aktiven Lebens, um die Zukunft zu begehen. Und gleichzeitig sicherte der Verschluss einen bedeutsamen Part der Vergangenheit. Er war Synonym für Sicherheit und Kontrolle, aber entließ resolut aus der Geborgenheit des Vertrauten, des schmeichelnden Intimen. Markus liebte feinsinnige Ambivalenzen. Das Verschließen einer Tür konnte er wie die Vorbereitung auf eine Offenbarung erleben. Das Öffnen einer Tür konnte sogar ekstatische Empfindungen auslösen. Die Drehung des Schlüssels baute, wenn Markus es wollte und zuließ, einen deutlich fühlbaren Spannungsbogen auf. Über den erlösenden Klang des sich bewegenden Riegels ließ er sich gerne mit dem Hauch der ersten Luftbewegung, wenn sich die Tür öffnete, nach Überwindung aller Widrigkeiten der letzten Stunden, Tage oder Wochen, in die Glückseligkeit fallen.
Seit drei Jahren bewohnten sie die Wohnung. Sie hatte bereits ihren eigenen Charakter entwickelt und stand in einer vertrauten Symbiose mit ihren aktuellen Bewohnern. Markus spürte, dass Sarah nicht anwesend war. Eine seelenlose Stille schlug ihm entgegen. Selbst das Fehlen ihrer Ausstrahlung hatte etwas Magisches. Vorsichtig betrat er den winzigen Flur, der es bescheiden gerade ermöglichte, die Garderobe abzulegen. Behutsam schloss er die Wohnungstür. Geister zu stören, lag ihm nicht. Er glaubte zwar nicht zwingend an Geister, aber die Macht der Fantasie und die vermeintliche Grenzenlosigkeit des Universums waren vertretbare Gründe, nichts auszuschließen, aber die Distanz zu wahren. Die wenigen Türen in der Wohnung standen offen. Zweiundvierzig Quadratmeter waren schnell zu überblicken. Das Bad glänzte und roch frisch. Im Schlafzimmer war das Bettzeug ordentlich gefaltet und glatt gestrichen. Er sah seinen Lieblingsbezug, den sie noch am Tag vor der Zeitspiegelung aufgezogen hatten. Es wirkte absurd, weil er gerade einen Blick fünfzig Jahre in die Zukunft gemacht hatte und nun dasselbe Bettzeug sah, als wäre nichts geschehen. Das kaum gestaltbare Wohnzimmer, an dessen Wänden einige seiner Fotoarbeiten in kleinen Formaten eine Bewährungsprobe zur Besichtigung hatten, soweit die integrierte Kochnische dazu Platz ließ, schien seit letzter Woche nicht mehr benutzt worden zu sein. Nach seiner Erinnerung lagen die Zeitschriften auf dem Tisch und das Wollknäuel mit den Stricknadeln auf dem Sofa in unveränderter Stellung. Sarah ließ sich viel Zeit, ihre farbenfrohen Puppenkleider, die guten Anklang fanden, fertig zu stellen. Mit größter Sorgfalt ging sie diesem Hobby nach.
Froh, endlich wieder zu Hause zu sein, spürte Markus diesen angenehmen Flair des Alltags, der sich nach aufregenden Abenteuern gerne als den eigentlich erstrebenswerten Part des Lebens anpries und im Ausklang gefällige Gemütlichkeit versprach. Er genoss die Ruhe und ließ sich in den schmuddeligen roten Sessel fallen. Für einen zweiten gab es nicht genug Platz. Sarah lag ohnehin lieber auf dem Sofa. Sie mochte das alte Möbelstück. Weil es schon mindestens drei Mal mit ihr umgezogen war, wie sie sagte. Mark hatte in den zehn Jahren ihrer Beziehung nur einmal mit ihr die Wohnung gewechselt. Es war ein Umzug, an den er nicht gerne dachte. Separatisten hatten ihr Haus in Brand gesteckt, weil sie als Journalisten gegen 'die Bewegung' Stellung bezogen hatten. Sarahs Berichte waren in der öffentlichen Meinungsbildung nicht selten tragend und Marks Fotos gaben den letzten emotionalen Schliff. Beide wollten die Gewalt bekämpfen, die bis in die siebziger Jahre hinein aus dem Streben nach neuen deutschen Staatsgebieten mit den Grenzen von vor 1990 hervorgebrochen war. Dabei hatte man im Zuge der Anpassung an die eurasische Union erst fünf Jahre zuvor dem Föderalismus innerhalb Deutschlands abgeschworen. Die konsequent entwickelte neue Politik Israels, den arabischen Nachbarn während der Hungerkatastrophen in den fünfziger Jahren des 21. Jahrhunderts Freundschaft aufzuzwingen, aber natürlich auch der nie zu verwindende terroristische Atomschlag gegen England 2060, hatten eine dauerhaft friedliche Entwicklung nach anfänglicher Skepsis und Verflüchtigung des Schocks begünstigt. Die christlich-jüdische Allianz war stark und im Islam hatte die moderne Auslegung des Koran das Fundament des Glaubens auf der Basis eines toleranten Miteinander zurecht gerückt. Mit breiter Zustimmung der Massen und Führer in den vielen Glaubensrichtungen. Es war im Grunde ein Wunder. Ob vierzig, tausend oder fünftausend Jahre währende Reiche oder Republiken, Politik und Geschichte würden wohl immer unbegreifliche Wege gehen. Einige Historiker behaupteten, die Gewaltentwicklung sei auch einer Polarisierung unter den Menschen in Deutschland und Europa als Folge der Fluchtbewegungen in den ersten drei Jahrzehnten des dritten Jahrtausends geschuldet. Die aufgerissenen Gräben innerhalb Deutschlands und Europas waren lange nicht zu schließen. Die individuellsten Bedürfnisse nach Verbesserung des Lebens hatten sich erneut in ein Korsett grobschlächtiger nationaler Gefühle gezwängt. Der grundlegend neuen Weltpolitik war es nicht gelungen, diese Gefühle aufzufangen und anderweitig zu befriedigen. Natürlich gab es nach wie vor für jeden einzelnen Menschen einen eigenen Tellerrand. Das Ziel globaler Gerechtigkeit verlor sich auf dem Weg zu den Herzen immer noch in Formulierungen und vertraglichen Details. Der Globalisierungsprozess war seit Jahrzehnten schleichend und blieb es. Er war zu wenig positiv wahrnehmbar, auch wenn hier oder dort mehr oder weniger erfolgreich. Die endlich gelungenen globalen Bildungs- und Arbeiterschutzreformen waren den Separatisten kein Indiz, dass global neu geordnete, aussichtsreichere Zeiten für die Menschheit angebrochen waren. Das Wort 'Menschheit' dümpelte weiterhin als Gattungsbegriff vor sich hin. Mit aller Macht schien dessen herausragende Bedeutung im Kampf für den Aufbau eines globalen Zusammenhalts ignoriert zu werden.
Sarah und Mark waren fünfunddreißig Jahre alt, als sie nicht mehr umhin kamen, es Krieg zu nennen. Sie waren im besten Journalistenalter und unbarmherzig in ihrer Offenheit. Zwei Jahre dauerten die Kämpfe. Für ihr Engagement erhielten sie Auszeichnungen. Und es schien fast so, als sei der Anschlag auf sie kraft ihrer Autorität in der öffentlichen Diskussion ein Beitrag zum Ende des Krieges gewesen. Zeitlich kam es hin und natürlich nahmen sie würdigende Kommentare in den Medien gerne zur Kenntnis. Aber das Leben wollte nicht mehr sein wie zuvor. Zu schrecklich waren die Ereignisse, die sie während des Krieges miterleben mussten. Vor allem wussten sie nun, dass so gut wie alle Generationen der menschlichen Gattung die geistige und emotionale Entwicklung wegen ihres Zerstörungsdranges schwer traumatisiert hatten tragen und ertragen müssen. Die Bedeutung eines Traumas für Menschen war nicht mehr so konturlos wie vor dem Krieg. Es war unglaublich, was man in zwei Jahren alles vernichten konnte, welche seelischen und materiellen Trümmerfelder zurück blieben. Das Sofa war eines der wenigen Besitztümer, die unbeschädigt blieben. Mark war nicht so sicher, ob er darüber glücklich war. Für Sarah war es aber ein 'Zeichen der Hoffnung', weshalb sie sich auch nicht mehr davon trennen wollte. Er respektierte es. Mark wollte sich nicht festlegen, ob schon die Schwelle zum Alptraum erreicht war. Weitere Erinnerungen kamen ihm nicht, so sehr er sich auch bemühte und die Augen besonders stark zusammen kniff, als könnte er so noch einige Bilder in sein Bewusstsein pressen. Unter der Voraussetzung, den Traum fortsetzen zu können, wäre er gerne wieder eingeschlafen.
Die nachhaltige Stille stichelte. Er stand auf, bestätigte seine Erwartung, alleine zu sein, und verschwand im Badezimmer. Die künstliche Ernährung mittels Infusion während der Zeitspiegelung machte ihm zu schaffen. Sein Darm war schwer gestört, als hätte er einen Einlauf bekommen. Der Gestank war teuflisch. Die neben dem Klo liegenden Zeitschriften ignorierte er. Wie oft schon hatte er sich darin auf dem 'Örtchen' verloren und Sarah auf die Palme gebracht, wenn er kein Ende fand. Jetzt wollte er ein schnelles Ende finden, zumal der über die Nase ins nahe Gehirn dringende Gestank den Gedanken auslöste, die Zeitspiegelung könnte diabolischer Natur gewesen sein. Ein Funken Reue gegenüber der Schöpfungskraft machte sich breit. Was soll die Evolution mit Kopien unvollkommener Geschöpfe anfangen, fragte er sich und war bemüht, an etwas Anderes zu denken. Ein Anflug von Ekel vor dem, was ihn an schmieriger Flüssigkeit durch den Anus verließ, überkam ihn. Selten hatte Mark sich so übertrieben schmutzig gefühlt. Unter der Dusche wusch er sich die Zeitspiegelung und die ersten Stunden der Gegenwart ab und verlor sich in Gedanken an Sarah.
Ihre erste gemeinsame Reise kam ihm in den Sinn. Sie hatten den Süden Frankreichs bereist. Das Meer der Flamingos und tausende andere Wasservögel symbolisierten das Paradies. Unglaublich große Herden weißer Wildpferde und die wuchtigen Stiere der Camarque wirkten wie ein übernatürlicher Zauber auf sie. Die weite, wilde Landschaft versetzte sie ans andere Ende der Welt. In der ersten Nacht schliefen sie am Strand nahe eines kleinen verträumten Fischerdorfes. Dessen weiß gekalkten Häuser und die kleine Kirche schienen nur dazu erbaut, Reinheit und Unschuld zu vertreten. Das Mittelmeer bestach einmal mehr durch seine fesselnde Schönheit und umspülte ihre Waden, wenn sie kindhaft durch die Gischt rannten, während der blaue Himmel und die brennende Sonne die Kraft des Universums an sie weiter gaben, die ihnen die Fähigkeit verlieh, sich und die große Liebe zu spüren. Sie waren wirklich glücklich.
In der Küche prüfte er, ob seine Gefühle für Sarah in kulinarische Kostbarkeiten zu verwandeln waren. Sie hatten immer gerne füreinander gekocht, in einem gepflegten, auf Dauer angelegten Wettbewerb um die besten Kreationen. Vielleicht war es sogar schon rituell. Vor allem legten sie Wert darauf, die Nahrung nicht zu sehr zu einem profanen Überlebensmittel verkommen zu lassen. Es ging nicht nur um Genuss oder Gesundheit. Es ging auch um Philosophie. Kurioseste Fortpflanzungsvorgänge und vielfältigste Nahrungsketten in der Natur waren sichere Beweise für die Komplexität des Lebens, das für jede Form, jedes Wesen und jede Pflanze mit unendlich vielen unmittelbaren und mittelbaren Abhängigkeiten verbunden war. Sarah und Mark brachten in der Küche ihren Respekt vor dem Leben zum Ausdruck. Sie waren von den wechselbezüglichen Beziehungen so vieler Lebensformen miteinander tief beindruckt. Kräuter, Wurzeln und Salate, Früchte aus der Erde, vom Boden, von Sträuchern und Bäumen, die gelegentlichen Tiere, alle hatte nur unter bestimmten Voraussetzungen und mit ausreichender eigener Ernährung gedeihen können. Die Zubereitung in der Küche war die passende Gelegenheit, Respekt zu zollen. Nahrungszubereitung war im Grunde immer ein Opferritual, das größtmögliche Aufmerksamkeit, Sorgfalt und Hingabe verdiente. Die Gedanken an eine Essenszubereitung erloschen jäh, als Marks Blick in den Kühlschrank an einem Brief hängen blieb. 'Was soll das denn? Warum stellt sie einen Brief in den Kühlschrank? Sie hätte ihn doch auf den Tisch legen können.' Er fragte sich natürlich auch, ob der Kühlschrank eine Unterkühlung ihrer Beziehung symbolisieren sollte und ob die Ereignisse der Zeitspiegelung auf ihnen lasteten? Den Kühlschrank schloss er, ohne den Brief angefasst zu haben, und suchte nach Erklärungen, die positiver Natur sein sollten. Auf Anhieb fielen ihm leider keine ein, irgend etwas Unangenehmes nahm er an. Die Angst vor 'irgend etwas' irritierte ihn schon als solche. Er war nicht immer ängstlich gewesen. Warum glaubte er an schlechte Nachrichten? Waren das Nachwirkungen der Erlebnisse hinter der Zeitfluktuationsgrenze? Hatte er seine dort durchlebten Unsicherheiten mit in die Gegenwart genommen? Sarah hätte interpretiert, 'das sind die Vibrationen im Raum, deshalb auch der Schweiß treibende Traum'. Bislang hatte er an solche Vibrationen nicht geglaubt. Die Zeitspiegelung hinterließ aber ihre Spuren, denn er war jetzt nicht mehr bereit, diese Vorstellung ohne weitere Gedanken als absurd abzutun. Seit der Spiegelung war er von der Idee beeindruckt, nichts sei unmöglich. Obgleich diese Idee einen durchaus optimistischen Ansatz hatte, half sie ihm in der aktuellen Situation allerdings nicht weiter. Mit einem Anflug von Kopfschmerz rang er sich zu seinem Verstand und seiner alten Vernunft durch und schob negative Schwingungen mit einer ausholenden Armbewegung beiseite. 'Quatsch! Idiot! Wahrscheinlich steht drin, dass sie was zu essen mitbringt.' Er öffnete den Kühlschrank, nahm den Brief, übersah den Gemüseauflauf und widmete sich der Lektüre:
Lieber Markus, mir fällt es nicht leicht, diesen Brief zu schreiben. Ich hatte nicht mehr den Mut, mit Dir zu reden. Ich hoffe sehr, dass Du mir verzeihen kannst. Auch, wenn wir uns nie wieder sehen sollten. Mein weiteres Leben in dieser Zeit möchte ich ohne Dich gestalten. Es hat nichts mit Dir zu tun. Du bist ein sehr liebenswerter Mensch. Unsere Hoffnungen für Dich und mich und unsere Liebe haben wir in die Zukunft geschickt. Lassen wir ihnen dort ihre Chance und nutzen jetzt die Gelegenheit, das zu vergessen, was uns unsere Vergangenheit alles aufgebürdet hat. Ich glaube, das gelingt nur mit einem neuen Leben. Mark fühlte sich, als hätte er einen Faustschlag in den Magen erhalten. Mit weichen Knien setzte er sich wieder in den Sessel, schloss die Augen und sah Sarah einen unendlich langen imaginären Strand entlang laufen. Je weiter sie sich entfernte, desto mehr strahlte sie, bis sie nicht mehr zu sehen war und am Ende nur ein helles Licht blieb. 3
Sie hatte ihn bereits am Fenster stehen sehen; ohne dass er sich besonders oder überhaupt bemerkbar gemacht hätte. Wenigstens ein kleines Lächeln hatte sie sich erhofft. Markus hatte sie kommen sehen und einen Anflug von Freude verspürt, die aber sofort in Angst umschlug. Plötzlich spürte er – zu denken war er immer noch nicht in der Lage -, dass diese Begegnung mit der Vergangenheit sehr schmerzhaft sein könnte.
Mark wartete nicht mehr. Ein großer Wunsch war in Erfüllung gegangen. Sarah sah ihm an, dass er erleichtert war, sie zu sehen und bereit war, mehr Leben in seine Augen zu lassen. Beide suchten nach äußerlichen Veränderungen und waren gleichsam erstaunt, dass sie sich bei einer zufälligen Begegnung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sofort erkannt hätten. Bevor das Schweigen bedrückend werden konnte, sagte Markus „Du hast Deine Wolle liegen lassen!“ Sie sah sich in dem spärlich eingerichteten Zimmer um. Die Einrichtung beschränkte sich auf einen praktikablen Nutzen. Viel zu sehen gab es nicht, ein weißes Stahlbett mit blau kariertem Bezug, ein Tisch, ein Stuhl und die Waschecke, daneben eine selbstreinigende Toilette, die nur durch einen kleinen Sichtschutz separiert wirkte. Blassblaue Wände ohne Bilder und ein schmierig aussehender grauer Kunststoffboden demonstrierten kühl eine Einschlussfunktion. Die Fenster waren ohne Vorhang und ohne Griffe. Schwarze Rollos konnten zur Verdunkelung herunter gelassen werden. Das Zimmer war erstaunlich groß. Vier Betten hätten ganz sicher mit ausreichendem Abstand hinein gepasst. Sarah überschlug, seit wann Mark glaubte, Jules, beziehungsweise Robert gesehen zu haben. Robert Schmitt gab sich ihren Zeitspiegelbildern gegenüber als das Zeitspiegelbild von Jules Meier aus. 2081 sei er als Dreißigjähriger ein Jahr in die Zukunft gespiegelt worden. Aktuell belief sich die Zeitrechnung auf das Jahr 2094. Das hieß, es war noch nicht lange her, dass Mark geglaubt hatte, Robert an der Rezeption gesehen zu haben. Ihre Zeitspiegelbilder würden ab 2123 leben und bald nach ihrer Ankunft, Entstehung, Spiegelung, oder wie auch immer sie zu bezeichnen versuchte, Robert Schmitt mit seinen dann zweiundsiebzig Jahren begegnen. Sie glaubte seit ihrer Rückkehr aus dem Institut für Zeitspiegelung nicht mit Überzeugung, dass eine Spiegelung überhaupt erfolgreich sein könnte. Um es zu überprüfen, müsste sie neunzig Jahre alt werden. Dann könnte sie theoretisch ihrem Zeitspiegelbild begegnen. Sarah sah Mark wieder tief in die Augen und fragte: „Hast Du mit ihm gesprochen?“ 4
Die Trennung war schon schlimm genug. Vielleicht! Sie war sich gar nicht so sicher, wie er zu einer Trennung stehen würde. Er hatte vor der Zeitspiegelung oft genug angedeutet, dass der Faden ihrer Beziehung sehr dünn geworden sei. Sie sah das nicht ganz so. Umso überraschter war sie, als er vorgeschlagen hatte, sich gemeinsam in die Zukunft spiegeln zu lassen. Er hatte eine Einladung zu diesem Pilotprojekt erhalten. Ihr gefiel der Gedanke, weiterhin mit ihm – ohne Kind – zu leben und dennoch ihren Wunsch nach einem Kind – ohne ihn – erfüllen zu können. Was lag also näher, als der Zeitspiegelung zuzustimmen. Die Trennung in der Gegenwart war für sie unausweichlich. Alles war vorbereitet. In spätestens zehn Monaten sollte sie Mutter sein, hatte man ihr versprochen. Schließlich entschied sie, den Brief in den Kühlschrank zu stellen. Es kam ihr idiotisch vor. Sie beließ das Schriftstück aber nach weiterer Überlegung dort. Konservierend, befand sie und ging.
Als sie die Klinik betrat, war jeder Gedanke an ihre Vergangenheit verflogen. Bunte Bilder, die Kinder aller Altersklassen gemalt hatten, hingen in der Empfangshalle und zogen sie in eine Welt, die bislang nur ihren Träumen vorbehalten war. In einer Spielecke, gleich einer Spielwohnung, hatten sich einige Kinder im Spiel verloren. Zwei Frauen in Hausuniform saßen etwas abseits und führten augenscheinlich Aufsicht. Sie unterhielten sich nicht. Die Eltern der Kinder waren vielleicht in einem anderen Gebäudeteil, um vertragliche Angelegenheiten zu regeln. Vielleicht wurden auch Eingriffe vollzogen. Sarah beobachtete die Kleinen, die einen liebevollen Umgang miteinander hatten. Sie war sichtlich berührt und spürte ihre Liebe zu Kindern. Es war eine besondere Liebe. Eine, die sich ihr als bedingungslos empfohlen hatte. Sie freute sich auf das Ultimative der Gefühle, die sie mit der Erfüllung ihres Kinderwunsches erwartete. Professor Kleiner empfing sie mit freundlichen Worten. „Guten Tag, Frau Wagner, schön, dass Sie gekommen sind. Die Ergebnisse der Untersuchung waren einwandfrei und die vertraglichen Angelegenheiten sind geklärt, dann bleibt mir also nur noch zu sagen, dass es jetzt losgehen kann.“ Ein frisches Strahlen überzog sein Gesicht. „Sind Sie bereit?“ 5
Mark entschloss sich, in die 'APO-Theke' zu gehen. Die kleine Kneipe war kein zweites Wohnzimmer, aber schon ein Stammlokal. Es war ein netter Laden. Sehr politisch. Was sollte die AußerParlamentarischeOppositions-Theke auch anderes sein? Sie war gut besucht. Es gab gute Musik aus der Schallquelle, Lesungen, kleine Konzerte, gute Gespräche, freundschaftlichen Umgang, wenn auch keine Freundschaften. Ian stand gelangweilt hinterm Tresen, als Mark die Tür öffnete und mit immer noch blassem Gesicht und unsicheren Schritten herein kam. „Lass mich raten! Doppelter Rum mit genau so viel Orangensaft. Du hast 'n komischen Geschmack.“ Für diesen Tag hatte er eine alternative Strategie zur Krisenbewältigung fest eingeplant. Mit der Kamera wollte er auf die Jagd nach gut ablenkenden Motiven gehen. Das sollte mindestens genau so wirkungsvoll sein. Elvira schlug die Augen auf. Und lächelte. Ein guter Start in den Tag, dachte er. Sie auch. Sie freute sich, dass er noch da war. Zumindest sehen wollte sie ihn noch. 6
„Ich verstehe! Petra wird sicher eine gute Mutter haben. Ich gratuliere Ihnen beiden.“ Nun war sie davon überwältigt, ihr Kind in den Armen zu halten und endlich die ultimativen Gefühle zu spüren, nach denen sie sich gesehnt hatte. Es war, als hätte die Liebe Gestalt angenommen und ihr die Offenbarung für unendliche Zuneigung geschenkt. „Vielen Dank! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich bin so glücklich. Danke, Maria. Vielen Dank.“ Petra kannte aber keinen verständnisvolleren Menschen als ihre Mutter und konnte sich auch nicht vorstellen, jemals auf einen solchen Menschen zu treffen. Sie liebten und respektierten sich als gleichberechtigte Partner in einer kleinen Familie. 7
Mark war erstaunt, wie nah Sarah ihm gewesen war. Sie fuhren nur wenige Minuten, nachdem sie die Klinik gemeinsam verlassen hatten. „Auf eigene Verantwortung“, hatte der leitende Direktor ausdrücklich betont. Er hatte auf ein Einzelgespräch mit Sarah bestanden. „Ihr Ehemann gilt als suizidgefährdet. Das müssen Sie wissen! Wir haben den Eindruck, dass er in einem Trauma gefangen ist. Der Unfall von vor einigen Tagen dürfte aber nicht die maßgebliche Ursache sein. Jedenfalls ist er psychisch völlig destabilisiert. Das ist gefährlich“, warnte er. „Sind Sie sicher, dass Sie sich diese Verantwortung aufladen wollen und können?“ „Was für ein Trauma soll das sein?“ hatte Sarah gefragt, die den Direktor nicht so richtig ernst nehmen wollte oder konnte. Auf sie wirkte er wie der Leiter einer Finanzbehörde. Als Arzt oder Psychologe hätte sie ihn nicht konsultieren wollen. An seiner Kompetenz als Verwaltungskraft zweifelte sie hingegen überhaupt nicht. Aussehen, Gestik, Blick und Stimme passten vorzüglich mit ihrer Vorstellung von guten Verwaltungskräften überein. Sarah hatte noch einige Papiere unterschreiben müssen, dann erst durfte sie ihn mitnehmen. Sie brachte sein äußeres Erscheinungsbild in eine Form, die für die erste Begegnung mit ihrer Tochter angemessen gepflegt erschien. Er ließ sich sogar von ihr rasieren. Seine Antriebslosigkeit erschreckte sie, hielt sie aber nicht davon ab, ihn mitzunehmen. Die Klinik lag am Stadtrand. Sie verließen die Stadt, ließen Wald und Flur vorüber ziehen und durchfuhren einige verträumte Dörfer. Die Fahrt war wenig unterhaltsam. Sarah bemühte sich, die richtigen Worte in ihrem Kopf zurecht zu legen, um ihn auf die anstehende Begegnung mit Petra vorzubereiten. Ihr war es am liebsten, wenn er von sich aus ein Gespräch eröffnet hätte. Aber ihm genügte, gemeinsam mit ihr in dem bequemen Mittelklassegleiter zu sitzen und den Ausflug zu genießen. Der Gleiter erinnerte an einen Delphin und Mark fühlte sich schwerelos wie im Meer.
Als sie endlich in einen Weg zu einem abgelegenen Anwesen einbogen, gab sie dem Computer die Anweisung anzuhalten. Mark sah sie erwartungsvoll an und fragte langgezogen: „Ja? Und?“ Die richtigen Worte hatte sie sich immer noch nicht zurecht legen können. Sie entschied sich für die kürzeste Variante: „Ich habe eine Tochter.“ Prüfend sah sie ihm in die Augen und wartete auf eine Reaktion. Ihr blieb jetzt nur, spontan mit dem Thema umzugehen und auf interaktive Krisenbewältigung zu setzen. Diese ersten Worte waren jedenfalls befreiend. Mark schwieg. Ihm war lieber, dass Sarah das Wort behielt. Sie hatte angefangen und würde schon wissen, welche Informationen jetzt wichtig für ihn waren. Wahrscheinlich würde er ihre Tochter in wenigen Minuten kennen lernen. Natürlich interessierte ihn auch das Alter ihrer Tochter. Aber er fragte nicht. So lange sie das Wort behielt, war es ihre Angelegenheit. Vermutlich legt er sich die Reihenfolge seiner Fragen zurecht, dachte sie. Besonders vor der Altersfrage hatte sie Angst. Die Antwort würde ihren Trennungsgrund aufrufen. Sie wollte ihn natürlich auch nach einundzwanzig Jahren nicht verletzen. Genau genommen, jetzt sogar noch viel weniger. „'Es'?“, zeigte sie sich überrascht und schob erklärend hinterher, „sie ist bereits eine junge erwachsene Frau.“ „Was? Ich meinte, ob es schön mit einer Tochter ist!“ 'Es' musste schrecklich aussehen. Vielleicht ist ihre Tochter so monströs wie Juliette in der Zeitspiegelung. Sollte er wieder an einen Zeitstrang geraten sein?
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Sie entfernte die morgens aufgetragene Farbe aus dem Gesicht und band ihre Haare beidseitig jeweils zu einem geflochtenen Zopf zusammen. Dann zog sie sich eine weiße Bluse und einen bis über die Knie reichenden dunkelblauen Rock an. Den Rest der Beine bedeckte sie mit halblangen weißen Strümpfen. Für die Füße wählte sie unter etwa fünfundzwanzig verschiedenen Schuhpaaren ein Paar flacher, grüner Riemenschuhe, die das Bild ihrer Vorstellung von sich gegenüber Markus perfekt abrundeten. In dem Kostüm einer strebsamen Schülerin und folgsamen Tochter würde sie ihm entgegen treten und alles dafür tun, ihn als Vater zu gewinnen.
Mit einem freundlichen Lächeln öffnete sie die Haustür. Ihre Aufregung hatte den Zenit erreicht. Sie brachte kein Wort heraus. Markus sagte ebenfalls nichts, als er sie in der Tür stehen sah. Aber er wurde noch blasser als er es ohnehin schon war. Stumm und bewegungslos standen sie und sahen sich nur an. Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Dann brach Markus zusammen und blieb bewegungslos am Boden liegen.
9 Erwin Nielke saß vor dem Bildschirm und studierte die Prognoseanforderungen für die nächste Verschränkung. Seine Kunden waren Informatiker, die fünf Jahre in die Zukunft zur Unterstützung des GIES, des Global Information and Entertainment System, eingebunden werden sollten, um an der Planerfüllung zu arbeiten. Sie würden die Entwicklung den Prognosen anpassen können. Seine Programme würden die Zukunft gestalten, davon war er überzeugt. In den letzten zwanzig Jahren, genau genommen, seit die Wagners das Institut verlassen hatten, verlor er Familie und Freunde, weil er wie besessen daran arbeitete, die Zukunft zu programmieren. Er sah es so, dass er mit der Analyseverwertung der Aufzeichnungen aus hunderten von Zeitspiegelungen die Entwicklung mindestens der letzten zehn Jahre deutlich geprägt hatte. Insbesondere das GIES sah er als seinen Verdienst an. Zwar gab es offiziell noch gar kein GIES, aber das störte ihn nicht. Er war überzeugt, dass es sich durchsetzen werde, auch wenn es bisher nur in seinen Programmen existierte. Schließlich schickte er ja bald Informatiker los, um die Realisierung seiner Vorstellungen von zentralisierter und berechneter Verwaltungsarbeit durch das GIES zu fördern. Bei den Verschränkten hatte sich das GIES als selbstverständlich etabliert. Es konnte alles verwalten, war unschlagbar entscheidungssicher und zuverlässig im Controlling. Und keine der Aufzeichnungen der Zeitspiegelungen hatte jemals einen Machtmissbrauch durch das GIES erkennen lassen. Der anspringende Kommunikator ärgerte ihn, aber der Signalton verriet, dass es eine Angelegenheit von übergeordneter Priorität war. Er musste das Gespräch annehmen, ob er wollte oder nicht. Auch solche Dinge werden sich ändern, dachte er, und nahm den Kommunikator auf, um unfreundlich zu sagen: „Nielke. Ja!?“ Solche Angelegenheiten würde er in eine vorgelagerte Verantwortung legen. „Guten Tag, Herr Nielke, Moos am anderen Ende. Sie hat ihn abgeholt und mit zu sich nach Hause genommen.“ „Aha. Ist ihre Tochter auch dort?“ Willi Moos antwortete gewohnt einsilbig: „Ja.“ Nielke überlegte, ob Handlungsbedarf bestand. Er sah für den Moment keinen und sagte: „Informieren Sie mich, wenn sie das Grundstück verlassen.“ „Jawoll!“ Erwin Nielke hasste diese zackige Unterwürfigkeit, sagte jedoch nichts und legte den Kommunikator zur Seite, ohne sich zu verabschieden. Die Sache mit Wagner war nicht schön. Dass er sich überhaupt damit beschäftigen musste, war schon belastend genug. Wagners Begegnung mit Schmitt in Sydney war ein echter Unfall. Das Institut für Zeitspiegelung konnte Nielke aus der Öffentlichkeit nehmen, die Geheimniseinstufung erreichen, die Leitung übernehmen, Kunden nach seinen Wünschen verschränken, wie jetzt die Informatiker, und alles lief nach seinen Vorstellungen. Und nun war Wagner da. Und er lebte immer noch. Dabei wäre sein zeitgemäßes Ableben im Rahmen der Zukunftsprognose. Er traute ihm nicht. So aufgekratzt, wie er nach seiner Begegnung in Sydney bei ihm erschienen war, um Einsicht in die Zeitspiegelaufzeichnungen zu verlangen, war ihm alles zuzutrauen. Öffentlichkeit konnte er auf gar keinen Fall gebrauchen. Nicht jetzt. Und ihr traute er noch viel weniger. Wenn ihr Journalistenblut zu brodeln beginnen würde, wäre sie nicht mehr zu halten. Gut, dass sie eine Tochter hatte. 10 Mark schlug die Augen auf und sah wieder dieses Gesicht, das ihn zu Boden gebracht hatte. Allerdings lag er nun in einem bequemen Bett, bequemer als das in der Klinik, mit grünem Bettbezug und vollerem Kopfkissen. Auch die Wände in dem Zimmer waren grün, nur in einem anderen Ton und heller. Die Fenster standen offen und ein leichter Wind verwehte die orangefarbenen Vorhänge. Vogelgezwitscher drang durch eine beeindruckende Stille an seine Ohren. Er fühlte sich in einem Schwebezustand, als befände er sich – und alles um ihn herum - im freien Fall. Auch dieses Mädchen, das an seinem Bett auf einem Holzstuhl saß und ihn anlächelte. „Sicher! Wie darf ich sagen?“ „Petra!“ „Petra!“ stellte er wieder eine Feststellung in den Raum und fragte: „Und Deine Mutter ist ...?“ Dass ihre Mutter ihm nichts von ihr erzählt hatte, nicht einmal ihren Namen erwähnt habe, fand sie etwas verletzend. Seine Suche nach einer Bestätigung der Mutter-Tochter-Beziehung entschädigte und freute Petra. Das war das erste Mal in ihrem Leben. Wer beide gesehen hatte, zweifelte nicht an der direkten Linie. „Sarah“, antwortete sie mit dem Ausdruck eben dieser Freude und zeigte genüsslich Sarahs Lächeln. „Du bist der 'Müllmann'!“ „Was es am Ende ja auch geworden ist!“ Mark lächelte nun ebenfalls. Er merkte, dass er dieses Mädchen mochte. Und sie schien ihn auch zu mögen. Fraglich war nur, ob er nicht doch einer Zeitspiegelung aufsaß. Vielleicht war das ja auch der Traum, von dem er glaubte, ihn nicht gehabt zu haben. Wenn er noch gar nicht aufgewacht ist, wäre es leichter zu erklären. An seinem Bett saß die zwanzigjährige Sarah und behauptete, Petra zu sein und ihre Mutter namens Sarah herbei holen zu können. Sein Lächeln hielt er nicht lage aufrecht. Er nahm ihre Hand und sagte: „Würdest Du Deine Mutter bitte holen.“ Petra empfand die Bitte väterlich und war gerührt, zeigte es aber nicht. Zu gerne hätte sie ihn umarmt. Aber die Situation war unpassend und sie spürte, dass er für eine Intimität in solch einem Ausmaß nicht bereit war. Nicht, dass er abweisend gewirkt hätte. Im Gegenteil, sie hatte das Gefühl, dass er sie mochte, aber eine atmosphärische Barriere trieb ihr instinktiv das Gefühl notwendiger Geduld unter die Haut. Also erhob sie sich brav von ihrem Stuhl, um Sarah zu holen. „Warte“, sagte er. Und schwieg. Sie fand ihn ulkig, obwohl - oder gerade weil - er das 'Warte' wie eine Anweisung über sie gestülpt und sie augenblicklich in den gewünschten Stillstand versetzt hatte. So unentschlossen er wirkte war er wohl auch. Schwächlich wirkte er nicht mehr auf sie. Trotz seines Zusammenbruchs. Die Kombination aus resoluter Anweisung und Unentschlossenheit fand sie ulkig. Nämlich so, wie sie sich einen Vater vorstellte. Einer, der in einer gutmütigen Art immer das Beste wollte, aber stets streng am abwägen war und sich die Entscheidungshoheit ins Gesicht zeichnete. Natürlich war sie besorgt. Sie wollte und durfte besorgt sein um ihren 'Vater'. Immerhin hatte er vor nur einer halben Stunde einen Totalausfall erlitten, den sie natürlich als dramatisch eingestuft hatte. Sichtbare Verletzungen hatte er jedoch nicht davon getragen.
„Ja, vielen Dank. Tut mir leid, wenn ich Euch einen Schrecken eingejagt habe. War sicher nicht so leicht, mich ins Haus zu schleppen?“ „Kein Problem, Du warst schon schwerer." „Wie lange war ich weg?“ Sarah schossen die letzten einundzwanzig Jahre durch den Kopf. „So lange, dass ich überlegt habe, in der Klinik anzurufen und so kurz, um es zu lassen.“ Sie lächelte und strahlte Zuversicht aus. "Möchtest Du etwas trinken? Einen Tee vielleicht? In einer halben Stunde gibt es etwas zu essen.“ „Gerne, ein Tee wäre gut.“ Petra führte Markus zu einem der blau gepolsterten Küchenstühle und entließ ihn aus der leichten Klammerung während sie ihn dezent auf den Stuhl drückte, wich dann jedoch nicht von seiner Seite, sondern blieb einen halben Schritt von ihm entfernt stehen. Ihn störte es nicht. Gefallen wollte es ihm aber auch nicht. Dass er sie dankbar anlächelte, wertete sie als Einverständnis zu ihrem Verbleib an seiner Seite. „Danke“, sagte Sarah. Petra machte einen zurückhaltenden Knicks. Sie hatte sich mit alten, vergessenen Höflichkeitsbräuchen beschäftigt und angewöhnt, einige zu beleben. Sie gaben ihr ein angenehmes Gefühl der Individualität. Dafür musste sie nur einen Fuß hinter den anderen stellen, beide Knie leicht einknicken und den Kopf etwas nach vorne beugen. „Sie ist auch sehr hübsch“, lobte er weiter und sah Sarah an. Petra knickste wieder, deutlicher. Sarah lächelte ihn an, fragte sich aber, ob das Kompliment mehrdeutig gemeint war. Es konnte auch ein Dorn sein, natürlich hatte er außerordentlichen Erklärungsbedarf. Elegant wich sie der eigenen Frage aus und sagte: „Ich bin sicher, Du meinst es ernst.“ Markus wollte sich an sein Versprechen halten und verletzende Kommentare unterlassen. Petra war nicht wie Sarah, Petra war Sarah. Zeitstrang oder Klon? Das war die Frage, die er sich stellte, aber für sich behielt. „Woher wusstest Du von dem Unfall?“ „Waren die Nachrichten nicht informativ?“, fragte er aus Interesse, nicht mit dem Ausdruck, keine Antwort geben zu wollen. „Nein, es war nur von einem schweren Unfall die Rede, den Du überlebt hast.“ „Ganz so berühmt bin ich dann wohl doch nicht. Jemand ist mir in den Gleiter gerauscht. Totalschaden. Mein Gleiter ist auseinander geflogen.“ „Und der andere?“ „War weg!“ „Wie weg?“ „Weg!“ „Hast Du ihn weggleiten sehen?“ „Nein. Blackout.“ „Und wie kam es zu dem Unfall?“ „Keine Ahnung. Vorher war er auch nicht da. Plötzlich war er neben mir. Und von vorne kam auch einer. Tja, dann scherte er ein, stieß gegen mich, oder was weiß ich.“ „Und der andere war auch weg?“ „Ja!“ „Warst Du schnell?“ „Schnell? So schnell wie immer. Ja! Hundertundfünfzig.“ Petra legte ihre Hand auf seine Schulter und zeigte sich erleichtert: „Da haben wir ja alle Glück gehabt. Ich freue mich, dass Du jetzt hier bist und ich Dich kennen lerne. Mama ist sicher auch sehr froh.“ Mark lächelte Petra an und legte seine Hand auf ihre, die immer noch auf seiner Schulter ruhte. Trotzdem wünschte er innerlich, jetzt wenigstens einige Minuten mit Sarah alleine sein zu können und unter vier Augen ein paar Worte über Petra zu verlieren. Schon wenige Worte dürften viel sein, dachte er. Sarah hatte das seltsame Bedürfnis, Markus einen vertrauten ehelichen Kuss zu geben. Sie war froh, dass er lebte. Aber vor Petra war sie zu einer solchen Annäherung nicht fähig. Andererseits mochte sie sie nicht bitten, beide alleine zu lassen. Petra spürte, dass sie nicht nur Markus berührt hatte. Sie legte ihre zweite Hand auf seine und sagte: „Ich glaube, ich lasse Euch jetzt mal ein paar Minuten alleine.“
„Sie ist wirklich anständig!“ Markus meinte es ernst. Sie war einer der seltenen Menschen, bei denen er auf Anhieb Sympathie spürte. Für gewöhnlich brauchte er eine Weile, um mit jemandem warm zu werden und Zuneigung zu empfinden. Das war nicht immer so. Aber in den letzten Jahren wurde diese Haltung immer dominanter. Er zog sich mehr und mehr zurück. Und war nun froh, in dieser Küche zu sitzen. Sarah war stolz auf Petra. „Vielen Dank. Ja, sie hat ausgesprochen viel Empathie.“ „Bitte nicht dieses Wort.“ Seit der Zeitspiegelung hatte Markus dieses Wort vermieden. Es erinnerte ihn zu sehr an die Vorgänge hinter der Zeitfluktuationsgrenze, es war ihm zu künstlich. Für ihn war Empathie ein Ausdruck genetischer Willkür. Obwohl es natürliche Empathie gab. Die genetisch produzierten Empathischen des nächsten Jahrhunderts wollte er aber nicht mehr als Menschen wie er einer war akzeptieren. In seiner Vorstellungswelt waren sie nur noch androide Persönlichkeiten. „Wer ist sie?“ „Ich verstehe die Frage nicht. Sie ist meine Tochter.“ „Sicher? Sie sieht nicht aus wie eine Tochter!“ „Ich habe sie zur Welt gebracht.“ „Man kann keinen Vater in ihrem Gesicht erkennen.“ „Sie hat keinen Vater.“ „Was ist sie?“ „Sie ist und bleibt meine Tochter. Auch wenn sie aus meinem eigenen Zellstamm ist.“ „Sie ist also ein Klon.“ Die Idee, dass sie eine Erscheinung in einem Zeitstrang sein könnte, wollte er vorerst aber nicht verwerfen. Selbst wenn sie selbst das Wort 'Klon' benutzen sollte. „Sie ist meine Tochter.“ „Ich könnte sie als Deine Schwester akzeptieren.“ „Ich habe sie zur Welt gebracht.“ "Ihr Samen stammt von Deinem Vater. Er und Deine Mutter gaben Euch das, was Ihr beide seid. Ich werde sie als Deine Schwester akzeptieren. So wie eineiige Zwillinge natürliche Klone sind.“ „Sie ist meine Tochter.“ Mit zügigem Schritt trat sie an ihn heran, beugte sich zu ihm hinunter, nahm sein Gesicht zwischen ihre weichen Hände und gab ihm demonstrativ einen Kuss auf den Mund, um die Diskussion zu beenden. Der Kuss war nicht frei von Erotik. Er spürte es. „Ich will und werde Dir das nicht ausreden. Es sind Deine Gefühle. Für mich ist sie Deine Schwester.“ Sarah hielt immer noch sein Gesicht zwischen ihren Händen und sah ihm in die Augen. Markus sah in ihre Augen und empfing stillschweigend die Anweisung, das Thema ruhen zu lassen. Für immer. Als sie sich aufrichtete, zur Tür ging und Petra zu Tisch rief, sah er eine Mutter, die eine Schwester hatte und diese wie ihr Kind behandelte. Das war für ihn eine akzeptable Rollenverteilung. Die Zeitstrangtheorie verwarf er dennoch nicht. Er war nicht sicher, ob er in nur dieser einen Gegenwart war oder gleichzeitig in mehreren.
Während des Essens sprachen sie wenig. Über Belanglosigkeiten, über die Größe des Grundstückes, die Anzahl der Zimmer, Entfernung zur Stadt, Infrastruktur und dergleichen. Auch das Wetter war im Gespräch. Das Essen schmeckte ihm. Er erinnerte sich an ihre zahllosen gemeinsamen Kochrituale, thematisierte seine Erinnerung aber nicht. Nur mit einem Lob für die köstliche Mahlzeit und dem Bemerken, sie sei in der Küche noch besser geworden, erlaubte er sich einen kurzen Hinweis auf die gemeinsame Vergangenheit. Das ging in Dur über die Lippen. Ein „weißt Du noch?“ wäre ins Moll gefallen. Er wollte die Begegnung positiv und ohne Schwermut gestalten. Soweit war er in der kurzen Zeit ihres Wiedersehens immerhin schon gekommen, ein Gestaltungswille war erkennbar. „Darf ich Dich nach Deinen beruflichen Ambitionen fragen?“, lenkte er das Gespräch zu Petra, um seine sensible Stimmungslage in Bezug auf Sarah im Griff zu behalten. „Ich studiere Futuronomie!“ Die Auskunft traf ihn wie ein Faustschlag. Sie konnte es nicht wissen. Niemals hatte Sarah ihr gegenüber die Zeitspiegelung erwähnt. Auch nicht, als Petra ihr zwei Jahre zuvor berichtet hatte, dieses Studienfach wählen zu wollen. Sarah hatte damit kein Problem. Markus aber riss die Augen weit auf und starrte erst Petra, dann Sarah ungläubig an. Bevor er etwas sagen konnte, schlug Sarah mit der Hand auf den Tisch und kündigte den Nachtisch an. Sie sprang auf und bereitete die Desserts vor. Währenddessen referierte sie ununterbrochen über ihr eigenes Studium der Publizistik. Bei Markus kam es nicht an. Er versuchte, seine äußerst unvollkommene Zeitstrangtheorie im Gehirn zu ordnen und bemühte sich, Petra nicht anzusehen, die diesen eigenartigen Stimmungswechsel nicht verstand. Sarah ärgerte sich. Weil sie nicht voraus gesehen hatte, dass Markus in seiner psychischen Verfassung ein Problem mit diesem Berufsfeld haben würde. Abgesehen davon, dass sie nicht daran gedacht hatte, fiel ihr auch nicht ein, wie sie es hätte verhindern sollen. Außer, sie hätte ihn in der Klinik gelassen, was sie als immer abwegiger ansah. Sie war immer noch froh, ihn mitgenommen zu haben. So allmählich konnte sie sich vorstellen, was in Markus vorgehen musste, wenn er sich als jemanden sah, der in die Zukunft geschaut und dort von seinem eigenen Ableben erfahren hatte. 11 Petra freute sich auf ein Vorstellungsgespräch. Eine Praktikumsstelle im Institut für materielle Verschränkung war vakant. Sie konnte sich eigentlich nichts darunter vorstellen. Aber die Stelle war ausdrücklich nur für Studenten der Futuronomie ausgeschrieben. Der Aushang im Foyer der Universität hing nicht lange. Kurz nachdem sie ihre Bewerbungsunterlagen eingereicht hatte, wurde er entfernt. Es gab wahrscheinlich sehr viele Bewerbungen, war ihre Vermutung. Zukunftsforschung war ein begehrter Studiengang. Zwei Wochen nach der Bewerbung erhielt sie eine Einladung und fieberte dem Termin eine weitere lange Woche entgegen. Markus und ihrer Mutter hatte sie nichts von der Bewerbung und der Einladung gesagt, nicht einmal von dem Angebot. Ihre Mutter war ohnehin etwas desinteressiert an der Zukunft und ihrem Studium. Petra konnte diese Haltung nicht verstehen. In ihren Augen war Sarahs stoische Art eigenartig. Gerade eine Mutter sollte doch ein besonderes Interesse an der Zukunft haben. Vielleicht war es ein großes Vertrauen, das ihre Mutter ihr stets geschenkt hatte, gelegentlich kam es aber als Desinteresse bei ihr an. Jedenfalls wollte Petra das Studium zuhause nicht mehr thematisieren. Seit sie drei Wochen vor der Bewerbung ihr Studienfach erwähnt hatte, war Markus wie weggetreten. Da er gerade erst aus der Klinik gekommen war, versuchte sie auch nicht, näher in ihn einzudringen. Dass er eine Psychose oder so etwas hatte, war offensichtlich. Auch ihre Mutter konnte oder wollte nicht erklären, warum die Erwähnung ihres Studienfaches einen so jähen psychotischen Schub auslösen konnte. Es war besser, wenn sie ihr Studium durchzog, ohne ihn damit zu konfrontieren. Also behielt Petra das kleine Geheimnis für sich und sah sich auf dem Weg in die Selbstständigkeit. Immerhin spielte er Schach mit ihr. Sie spielten ausgeglichen, er hatte einen leichten Vorsprung von zwei Spielen. Seit sechs Wochen war er nun bei ihnen. Sie sprachen wenig miteinander. Auch mit ihrer Mutter redete er kaum. Er hing irgendwelchen Gedanken nach, die er nicht teilte .Natürlich hatten Sie oft gefragt, was in seinem Kopf vorgehe. Vergeblich! „Unwichtig“, sagte er manchmal, oft gab er aber gar keine Antwort.
Petra war beeindruckt von dem Bauwerk, in dem das Institut untergebracht war. Der Eingang war am Fuße eines Berges. Das Institut schien in einen Berg gebaut oder gegraben worden zu sein. Am Informationsschalter erhielt sie die Auskunft, sie müsse den Fahrstuhl nehmen und zum Warteraum im fünften Untergeschoss fahren. Als sie den Fahrstuhl betrat und feststellte, dass sie bis in das dreiundzwanzigste Untergeschossen fahren könnte, spürte sie in ihrem Körper die Ausschüttung von Adrenalin. Die abertausenden Tonnen Gestein über dem Institut nötigten ihr Respekt ab. Sie war nicht ängstlich, fragte sich aber doch, wie ein Unglück in solcher Tiefe überlebt werden könnte. Und wegen der Neugier, was ganz unten zu sehen wäre, hoffte sie nun noch mehr, die Praktikantenstelle zu bekommen. Irgendwann wollte sie bis nach ganz unten fahren.
Der Warteraum war wohnlich eingerichtet. Eine üppige Couchlandschaft mit zahlreichen Sitzsatelliten und einigen kleinen Beistelltischen waren auf etwa fünfzig Quadratmeter blauem Teppich verteilt. An allen Wänden standen hohe Regale mit Büchern. Besonders imponierte ein großes Aquarium mit Korallen und bunten Meeresfischen. Das Gefühl, tief unter der Erdoberfläche zu sein, war angenehm stimuliert. Die vorwiegend hellgrünen Töne des Mobiliars hatten etwas Belebendes in diesen Tiefen. Petra fragte sich, ob die Außentemperatur höher war als an der Erdoberfläche. Für ein Stockwerk veranschlagte sie fünf Meter. Zu drei Metern Deckenhöhe schätzte sie zwei Meter Deckenstärke hinzu. Sie wunderte sich, dass die Decken nicht gewölbt waren. Vielleicht war die Wölbung aus gestalterischen Gründen verbaut. Fünfundzwanzig Meter unter der Erde, schätzte sie. Nein, das wäre sicher kein fühlbarer Temperaturunterschied, schloss sie ihre Überlegungen, als ein nach ihrem Geschmack sehr ansehnlicher Mann, um die vierzig Jahre alt, den Raum betrat. Trotz weicher Gesichtszüge wirkte er sehr maskulin. Er hatte sogar die klassisch grauen Koteletten, wirkte aber genauso klassisch jugendlich. Er hatte volle Haare, ehemals schwarz, und er war etwas größer als sie. Mit lockerer Bekleidung und trendigen Schuhen gewann er bei ihr weitere Sympathiepunkte. Schwärmerisch, hätte sie ihren Zustand sogar bezeichnet, als sie seine Stimme hörte. Sie war tief und kräftig, aber weich, verführerisch weich, lockend und einnehmend. Während er auf sie zukam, sagte er: „Sie sind im Tempel der guten Literatur. So nennen wir den Raum. Er gehört zu meinen Lieblingsorten.“ „Ein wirklich schöner Ort“, bestätigte Petra, die in diesem Moment tatsächlich so empfand, stärker noch, als vor dem Erscheinen dieses angenehm auftretenden Mannes. „Fühlen Sie sich wohl. Mein Name ist Alexander Bogard. Ich freue mich, dass Sie hier sind, Frau Wagner. Danke, dass Sie unsere Einladung angenommen haben. Ich begrüße sie herzlich.“ Er reichte ihr die Hand, in die sie ihre mit merklich langsamer Bewegung gleiten ließ und sie dort am liebsten belassen hätte. Diese Hände waren für Zärtlichkeiten geschaffen. Vielleicht hatten sie niemals harte Arbeit leisten müssen. Vermutlich war er musikalisch und beherrschte mindestens drei Instrumente. Sie war sicher, er konnte auch singen. „Vielen Dank, ich freue mich auch. Petra, Petra Wagner.“ Sie war nervös, hatte er doch bereits ihren Namen genannt. Mit ihren Gedanken war sie immer noch bei seinen Händen.
Alexander Bogard führte Petra mit leichtfüßigem Schritt zum Fahrstuhl und fuhr mit ihr weiter in die Tiefe, in das zehnte Untergeschoss, in sein Büro. Es war so geschmackvoll eingerichtet, wie Petra es auf dem Weg dorthin erwartet hatte. Sie spürte eine Symbiose aus Kraft und Sanftmut. Er liebte Pflanzen und helles Mobiliar, Kunst an den Wänden und eine abstrakte Skulptur auf dem Schreibtisch. Auch hier stand ein Aquarium. Dieses war wesentlich kleiner, aber in dieser noch größeren Tiefe nicht weniger beeindruckend. „Bitte, nehmen Sie Platz.“ „Vielen Dank. Sie haben ein sehr schönes Büro.“ „Ja, ich habe es nach meinem Geschmack einrichten können. Mir gefällt es auch sehr. Ich könnte hier wohnen. Manchmal übernachte ich hier. Wenn ich sehr viel zu tun habe.“ Sie sahen sich an und ahnten, dass sie eine chemische Verbindung hatten, die Nähe verlangte, und dass dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte. Die Lippen, die sie sahen, lächelten zustimmend. Wenn sie sich getraut hätten, sich in diesem Moment zu küssen, wäre der Kuss genauso selbstverständlich gewesen, wie zu jedem anderen späteren Zeitpunkt. Alexander Bogard hatte das Gefühl, nie eine schönere Frau gesehen zu haben. Sie hatte eine Aura, die ihn beflügelte. Privat war er Musiker und sie wäre seine Muse, wenn sie sich näher kämen. Das wusste er sofort, als er sie im Literaturtempel sah und ihre Anwesenheit spürte, die den Raum vollständig auszufüllen schien. Er war überwältigt, merkte aber, dass sie sich unter den Umständen eines Vorstellungsgespräches schon zu lange angestrahlt hatten. „So, der erste Schritt ist gemacht. Sie sind hier.“ Mehr fiel ihm nicht mehr ein. Er wusste nicht einmal, was er mit dem ersten Schritt gemeint hatte. Petra gefiel seine Unsicherheit. Natürlich wären ihr andere Umstände lieber gewesen. Gerne hätte sie ihm in verspielter Manier die Unsicherheit genommen. Aber als Bewerberin um ein Praktikum zwang sie sich natürlich zur Zurückhaltung. Sie hätte ihn zu seinem allergrößten Charme, den er ohne Zweifel in großzügiger Ausstattung haben musste, geführt, um sich ihm, sobald die Unsicherheit verflogen wäre, sofort ergeben zu können. „Sie möchten ein Praktikum machen?“ Endlich hatte er die Kurve. „Ja, sehr gerne.“ „Wissen Sie denn, um was es geht?“ „Auf einem Aushang in der Uni wurden Studenten der Futuronomie gesucht.Also bin ich hier!“ Sie ließ eine Pause, um an ihre Anwesenheit anknüpfen und vielleicht nochmals einen Hauch seiner Unsicherheit spüren zu können, die inzwischen aber verflogen war. Er wirkte nun sehr professionell. „Ich habe leider keine Informationen zu den angebotenen Möglichkeiten gefunden“, schob sie mit leicht eingezogenen Schultern nach und bemühte sich, ihre eigene Unsicherheit zu verbergen. Er zeigte nicht, dass er ihre Unsicherheit bemerkt hatte und sagte: „Also haben Sie bereits die erste Voraussetzung erfüllt, um hier angenommen werden zu können. Bedingungslose Neugier ist die wichtigste Eigenschaft, die sie als Zukunftsforscherin mitbringen müssen. Dann wollen wir mal mit den Formalien beginnen. Ich möchte mit Ihnen zunächst eine ausführliche elektronische Akte anlegen. Danach möchten wir einige Tests mit Ihnen machen, um ihre körperliche und geistige Verfassung beurteilen zu können. Abschließend wären noch die vertraglichen Grundlagen zu besprechen. Ich hoffe, Sie sind damit einverstanden. Natürlich wird das Gespräch aufgezeichnet.“ Es war üblich und sie wollte nun unbedingt in diesem Haus eine gewisse Zeit verbringen. Ihr saß ein weiterer Grund gegenüber, neben ihrem allgemeinen Interesse an der Zukunft und allem was damit zusammen hing, einschließlich der von ihr als sympathisch eingestuften bedingungslosen Neugier. Außerdem verfestigte sich in dieser größeren Tiefe das Bedürfnis, zu wissen, was im untersten Stockwerk war. Sie verbesserte ihre Sitzhaltung für mehr Selbstvertrauen und war froh, ihn beobachten zu können, während er an seinem Terminal mit der Anlage ihrer elektronischen Akte beschäftigt war. Bereitwillig gab sie ihm alle erbetenen Informationen und freute sich, wenn er sie für eine Frage kurz anschaute und ihr einen Blick in seine Augen gewährte. Tiefbraun und strahlend nährten sie ihre Ahnung von der Wärme, die in ihm sein mochte. Petra hatte ihren Lebenslauf und die wesentlichen Daten ihrer Biographie bereits ihrer Bewerbung beigefügt. Gleichwohl mühte er sich mit der Aufnahme aller Fakten, wie er es nannte, und nutzte die Gelegenheit, einen Charme aufzubauen, von dem er hoffte, dass er ihr ein taugliches Signal für sein persönliches Interesse an den 'Fakten' war.
Endlich drehte er den Terminal zur Seite und fragte unvermittelt: „Mögen Sie Sternenstaub?“ „Sternenstaub?“ Sie war überrascht. Eine romantische Frage hatte sie nicht erwartet. Alexander Bogard war aber nicht romantisch. Er war Astronom. Im Institut beschäftigte er sich vorwiegend mit der Entstehung und Wandlung des Lebens. „Ja! Sternenstaub. Wissen Sie, was Sternenstaub ist?“ „Ich verstehe nicht.“ Petra war gewillt, ihm die Antwort zu überlassen. Er genoss eine kleine Pause. Weil er in seinem Element war. Es war keine Überheblichkeit, vielmehr Stolz, Wissen zu haben, das die Erschließung des Weltalls fördern sollte. Die Körperlichkeit des Menschen war ein Handicap, an dessen Überwindung er arbeitete. Er war überzeugt, die Verbreitung seiner Spezies im kosmischen Maßstab in evolutionären Zusammenhängen voran treiben zu müssen. Das Gehirn des Menschen sah er als wesentlich an. Auf den Rest konnte man verzichten, wenn es sein musste. „Wir sind hier im Institut für materielle Verschränkung. Wir beschäftigen uns mit dem Raum und der Zeit und den Materien in diesen Dimensionen. Und wir fragen uns, wie die Materie entweder nur durch den Raum oder nur durch die Zeit transportiert werden kann. Wir haben natürlich unsere Aufgaben und Ziele. Vor allem interessieren wir uns für die Zukunft. Deshalb sind Sie hier. Sie verwalten Informationen, die sich auf die Entwicklung der Zeit beziehen. Sie dürfen nie vergessen, es geht immer um Informationen. Sternenstaub ist eine Ansammlung von Informationen über die größten bis zu den kleinsten Mengen Energie, die sich zu Leben verdichten können.“ „Ich befürchte, ich verstehe immer noch nicht.“ „Das macht nichts. Es ist das Privileg der Studierenden, bestimmtes Wissen nicht zu haben. Deshalb studieren sie. Im Studium erarbeiten sie sich das nächste Privileg. Wissen! Wie weit können Sie denken?“ Spielerisch frech fragte sie: „Im Raum oder in der Zeit, in die Vergangenheit oder in die Zukunft.?“ Bogard zog seine Mundwinkel belustigt zurück, so wie er es tat, wenn er im Brettspiel überraschend einen Zug verlor, aber weiterhin siegesgewiss war. „Brillant“, entgegnete er mit einem ehrlichen Lächeln, „ich schätze es sehr, wenn Menschen differenziert denken. Denken Sie in die Zukunft!“ Petra gefiel seine Art. Mit einem eigensinnig fröhlichen Lächeln fegte sie ihre Unsicherheit beiseite und sagte: „Ich nehme an, das Universum ist noch sehr jung. So jung, dass es sich noch in der Beschleunigungsphase nach dem Urknall befinden könnte. Selbst wenn es immer so sein sollte, weil nichts die Beschleunigung bremst. Jedenfalls wäre die Konsequenz, einen Zeitraum zu wählen, der ein Vielfaches des bisherigen Alters umfasst. Ich würde eine Zeittafel in kosmischen Maßstäben anlegen. Im Grunde könnte ich über mein eigenes Ende hinaus beliebig weit denken.“ „Sehr schön.“ Er ließ wieder eine Pause und hoffte, sie bezöge eine Doppeldeutigkeit auf sich. „Und wo sehen Sie den Menschen?“, fragte er weiter. Sie legte vorsorglich ihren Blick auf, der eine entschlossene Bereitschaft zur kontroversen Verteidigung einer These signalisierte, und antwortete knapp: „Unterentwickelt. In einem frühen Stadium der Entwicklung.“ Freudig sagte er: „Wunderbar. Das ist genau unser Ansatz. Fest steht, dass wir eine komplexe Ansammlung endlich vieler unterschiedlicher Elemente sind. Das Besondere daran ist, dass die Ansammlung bestimmbar ist. Wir können sie kopieren und könnten sie sogar ändern. Wenn wir wollten. Und andere Wissenschaftler des Instituts versuchen, mein Wissen in ihre Disziplin einzubinden, in die Erfassung und Verknüpfung von Raum und Zeit. Das ist unsere Aufgabe.“ „Menschen oder Kopien davon durch Raum und Zeit zu schicken?“ „Genau genommen, nur die Elemente des Menschen. Können Sie sich so etwas in der Zukunft vorstellen?“ Petra überlegte, wie viel Fortschritt sie auf diesem Gebiet der Forschung erwarten durfte. Mit solchen Fragen hatte sie sich bisher nicht beschäftigt. Genau genommen, hatte sie nicht einmal von solchen Projekten gehört. Diplomatisch sagte sie: „Ich finde es sehr interessant! Und was ich interessant finde, kann ich mir auch vorstellen.“ Alexander Bogard war amüsiert. Sie hatte eine lustige, unschuldige Art. Er hätte noch Stunden mit ihr sitzen wollen, aber es lag nicht in seiner Kompetenz, den Ablauf nach seinen Bedürfnissen zu steuern und insbesondere nicht, nähere Details der Forschungsergebnisse des Instituts bekannt zu geben. Das erste Mal seit er in dem Institut arbeitete, wünschte er sich, auf einer vorgesetzten Position zu arbeiten. Er hätte sie sofort eingestellt. Ohnehin wusste er nicht, warum sie ihn mit der Erstvorstellung beauftragt hatten. Sein Aufgabenbereich lag nach wie vor in der Forschung. Um seine Erklärungen zu ihrer möglichen Verwendung als angehende Futuronomin abzuschließen, sagte er: „Futuronomen werden hier benötigt, um die Zukunft zu bestimmen. Um bestmögliche Prognosen zu entwickeln. Und um die Zukunft zu gestalten. Aber lassen Sie uns jetzt ins Testlabor gehen. Ich werde Sie leider weiter reichen müssen.“ Mit einer Mimik des Bedauerns wandte er sich wieder dem Terminal zu und drückte die letzte Taste für die Freigabe der Akte Petra Wagner. Auf dem Weg zum Labor liefen sie nah nebeneinander, so dass sich ihre Arme und Hände berührten. Schweigsam genossen beide, sich zu spüren, wenn auch nur wenig, aber es war wie ein Streicheln. Und beide wünschten, dass sie gleich empfänden.
12 Markus Wagner widmete sich wieder seiner Leidenschaft, Müll zu Kunst zu gießen. Seit zwei Wochen war Petra nicht mehr erschienen. Nach einigen Tagen ihrer Abwesenheit hatte er die Leere, die sie zurückgelassen hatte, nicht mehr ertragen und ließ sich eintausend Liter Kunstharz liefern, um den gemeinsamen Müll in transparente Quader zu gießen. Den Müll ordnete er nach Form und Farbe. Die ausgehärteten Quader verbaute er zu einem Objekt, das er nach Fertigstellung als Skulptur bezeichnen wollte. Sarah hatte es nur widerwillig erlaubt. Aber sie war froh, dass er aktiv wurde. Er wagte nicht zu äußern, dass Petra ihm fehlte. Bisher hatte er wenig gesprochen, schon gar nicht zugegeben, dass er sich in Gesellschaft der beiden Frauen wohl fühlte. Ihre Anwesenheit und die Schachspiele mit Petra genügten ihm. Er meditierte viel, saß stundenlang in scheinbar unbequemer Haltung auf der Terrasse und wirkte zufrieden. Sie ließen ihn in Ruhe. Die Frage, ob Petra ein Klon oder eine Zeitstrangerscheinung war, stellte er sich nicht mehr. Dafür fühlte er sich zu geborgen. Diese Geborgenheit half ihm, die psychotische Komponente seiner aktuellen Situation zu ertragen. Andererseits wollte er eine Intensivierung der Beziehungen vermeiden. Die Distanziertheit zu beiden gab ihm ein Gefühl der Sicherheit im menschlichen Miteinander. Außerdem fühlte er sich auf Sarahs Grundstück sehr sicher und sah keine wesentlichen Unfallgefahren, was ihm allerdings auch Grund war, dieses befriedete Stück Erde nicht zu verlassen.
Petras plötzliches Verschwinden wunderte ihn nicht. So etwas kam vor. Sie war zwanzig Jahre alt. Als Sarah ihm sagte, sie sei beunruhigt, weil Petra ihr nicht habe sagen wollen, wohin sie wollte, empfahl er ihr Gelassenheit und verwies auf Petras Alter und die Notwendigkeit, los zu lassen. Mark hingegen sah ein, dass auch die Beziehung von Schwestern nicht einfach war. Warum sollte er nicht auf die Gefühle der großen Schwester eingehen? Natürlich thematisierte er Petras Herkunft nicht mehr. Es störte ihn auch nicht, dass ihn das Gefühl beschlich, Sarah hätte seinen Rat als Triumph in ihrer Rolle als Mutter gesehen. Bei genauer Betrachtung waren es nur Begrifflichkeiten. Tatsächlich ging es um Gefühle. Klon hin oder Zeitstrang her, er hatte beide real neben- und miteinander erlebt und die menschlichen Bindungen gespürt. Und ihm gegenüber zeigten sie sich immer freundlich bis liebevoll. Als Sarah nach einer Woche mitteilte, dass Petra sich gemeldet habe, sie in Wien auf einem Seminar sei und es ihr gut gehe, fühlte auch er Erleichterung und gab sich nicht viel Mühe, dies zu verbergen.
Sarah hatte den Eindruck, dass Mark sich gut erholte. Körperlich hatte sie ihn bereits aufgepäppelt. Zu seiner psychischen Verfassung wollte sie keine verbindliche Einschätzung vornehmen. So wenig wie er sprach, schien er ihr zwar nicht gesund, andererseits hatte sie ihn einundzwanzig Jahre nicht gesehen. Er könnte auch ohne Psychose den Charakterzug eines Schweigsamen entwickelt haben. Soweit ihr aufgrund seines Ruhmes als Müllkünstler bekannt war, hatte er lange in Indien gelebt. Das wird sicher nicht ohne Einfluss auf ihn gewesen sein, dachte sie mit dem Bildnis eines Fakirs vor ihrem inneren Auge, verbot sich aber, ihn auf seine Vergangenheit anzusprechen. Sie war unsicher, wie stark ihre gemeinsame, wenn nicht sogar tragisch getrennte Geschichte mit seinem neuen Wesen verwurzelt war. Sie fand, er hatte das Recht, zu entscheiden, ob und wann Dinge aus dem Leben ihrer Vergangenheit in ein dann hoffentlich ruhiges Gespräch einfließen sollten. Nur die Müllkunst und die Oberflächlichkeiten des täglichen Leben schafften kommunikative Möglichkeiten. Markus stellte keine Fragen, was sie natürlich für bedenklich hielt. Sie glaubte nicht, dass Mark von ihr erwartete, dass sie ihren Trennungsgrund von sich aus thematisieren sollte. Er sah es ja. Da war es wieder: Es! Es ließ sie nicht los. Seit seinem Wiedereintritt in ihr Leben dachte sie bei dem Pronomen 'Es' häufig an Petra. Klon! Sarah hasste dieses Wort. Jetzt konnte sie sich ein Kind mit seinen Genen vorstellen. Lange hing sie solchen Gedanken aber nicht nach. Sie liebte Petra über alles. Es gab nichts zu bereuen. Weil ihr die Gegenwart mit Mark angenehm war, wollte sie auch die Zukunft nicht ansprechen. Die stufte sie als 'sicher kritisch' ein. Sein Stimmungswechsel, seit er von Petras Studium der Futuronomie gehört hatte, war nicht anders zu interpretieren. Sie hatte so etwas noch nie erlebt, einen psychotischen Schub, oder wie auch immer die Diagnose zu lauten hatte, von einer Sekunde zur nächsten. In der Klinik rief sie aber nicht an. Ein so schnelles Scheitern ihrer Bemühungen wollte sie nicht zulassen. Sie glaubte auch nicht, dass sein Leidensdruck bereits eine Eigengefährdung suizidaler Natur auslöste. Dafür beschäftigte er sich zu sehr mit seinen Bildern, betrachtete sie lange, ordnete sie, schrieb etwas zu einigen Objekten, zeigte ihnen viele und gab bei nicht wenigen auch eingehende Erklärungen ab. Kunst war für ihn die Freiheit von der Realität, die ihn aber doch in Ketten hielt. Paradoxe Lebenssituationen faszinierten ihn und prägten viele seiner Werke. Immerhin hatte sein Müll erhebliche künstlerische Aufmerksamkeit erregt, besonders seine Kollagen mit langsam bis gar nicht verrottenden Materialien. Aus der Ferne hielt man sie für Fotografien. Sie hatten den Fokus auf ihn als ernst zu nehmenden Künstler geworfen. Auf den 'Fotos' waren zumeist anregende Blumenlandschaften zu sehen, aber auch städtische Szenen. Sogar Portraits waren ihm gelungen, auch Selbstportraits. Letztere sah er nicht so gerne, aber das Publikum war fasziniert. Die Skulptur in ihrem Garten befand Sarah letztlich als gelungen. Sie sah aus wie ein kantiger, aber fröhlicher Baum mit bunten Früchten.
In der dritten Woche nach Petras Abschied suchte Mark endlich die Nähe zu Sarah, beschränkte diese aber vorerst darauf, ihr bei der Arbeit im Garten zuzusehen. Sie hatte nichts dagegen. Im Gegenteil, sie vermisste Petra und war froh, dass Mark da war, auch wenn er kaum sprach. Petra war nie länger als höchstens eine Woche fort gewesen, etwa zu Schulausflügen unter Aufsicht oder zu sportlichen Veranstaltungen. Seine Anwesenheit half ihr, den Beginn einer neuen Lebensphase ohne Petra als unabwendbar zu begreifen und vor allem zu akzeptieren. Mark war ihr in dieser Situation ein angenehmer Zeitgenosse. Bescheiden, freundlich, hilfsbereit und kreativ. Aber schweigsam. Sie sah es durchaus auch als Vorteil. Was nicht gesagt wurde, konnte keine unkontrollierbaren Wortlawinen auslösen.
Sarah hatte auf einer Länge und Breite von jeweils zwanzig Metern ein Beet abgesteckt. Ihr war, als hinge ihr seelisches Gleichgewicht daran. Im Verhältnis zur Größe des gesamten Grundstückes war es aber bescheiden klein. Mit tiefen Spatenstichen öffnete sie die Erde und zog jedes sichtbare Würzelchen heraus. Dann setzte sie Kartoffeln. Der Geruch umgepflügter Erde beruhigte sie. Mark saß auf einem entwurzelten Baumstumpf und beobachtete jede ihrer Bewegungen. Sein Angebot, zu helfen, lehnte sie dankend ab, er könne aber gerne ein eigenes Beet anlegen, was er wiederum mit Dank ablehnte, weil er nur helfen wolle, sich aber nicht unbedingt durch die Erde wühlen müsse. Er bewunderte Sarah, wie langsam und sorgfältig sie arbeiten konnte. Bei ihm mussten praktische Dinge immer schnell erledigt werden. Natürlich wusste er, dass sie sich von ihrer Sorge um Petra ablenkte. Insgeheim fand er ihre Methode besser als seine, weil sie existentieller Natur war. Abgesehen davon, dass seine Kunst Geld wert war, was er aber einer gewissen gesellschaftlichen Willkür zuschrieb. Der Anbau von Kartoffeln wurde hingegen von jedem Menschen uneingeschränkt als sinnvoll und gut beurteilt.
„Träumst Du?“, fragte er nach einer Weile unangestrengten Beobachtens. „Ich träume nicht, ich arbeite und stelle meine Gedanken ab.“ „Nein, ich meine, ob Du im Schlaf träumst! Kannst Du Dich an Deine Träume erinnern, wenn Du aufwachst?“ „Sicher, gelegentlich, nicht immer! Und Du?“ Er ging auf ihre Frage nicht ein, sondern fragte weiter: „Was träumst Du?“ „Mal dies, mal das. Nichts bestimmtes. Und Du?“ Mark blieb bei seinen Fragen: „Nichts bestimmtes? Immer etwas anderes? Sicher?“ „Ja sicher. Soweit ich weiß, ich erinnere mich ja nicht immer.“ Mark bohrte weiter: „Und wenn Du Dich erinnerst?“ „Ich weiß nicht, mir fällt jetzt kein Traum ein.“ „Keiner?“ „Nein. Fällt Dir einer ein?“
Mark überlegte, ob er von seinen Träumen erzählen sollte. Er hatte sich an sie gewöhnt. Sie belasteten ihn nicht mehr. Jedenfalls empfand er es so. Und so häufig waren sie auch nicht, redete er sich immer wieder ein und war sich dessen bewusst. Drei bis vier Mal in der Woche im Schlaf von schmierigen leuchtenden Gestalten heimgesucht zu werden, war zumindest auffällig anormal. Insbesondere, weil das zwanzig Jahre so gegangen war. Sie waren nicht gefährlich, aber unangenehm präsent, und sie waren eben schmierig. Aber ihre Geruchslosigkeit passte nicht zu ihrer Präsenz, die ins Reale griff. Außerdem war es ihm unangenehm, diese Wesen zu beobachten und kennen zu lernen, während sie ihn ignorierten und scheinbar keinen Kontakt mit ihm haben wollten. Sie hatten sogar Familien mit Kindern. Alle schufteten. Erst seit etwa einem Jahr hatte er diesen Traum nicht mehr. Allerdings wiederholte sich der nächste Traum ebenfalls drei bis vier Mal in der Woche. Natürlich war er glücklich, nach zwanzig Jahren wieder Sonnenlicht in seinen Träumen zu sehen und vor allem Menschen. Endlich ließen seine Träume zu, sich zu unterhalten. Die Welt hatte sich verändert. Besonders bemerkenswert war der Umstand, dass er meinte, jünger geworden zu sein. Er war auf der Erde. Aber es ereignete sich kaum noch etwas. Meistens saß er in Warteräumen und unterhielt sich mit fremden Personen. An die Gesprächsinhalte konnte er sich nie erinnern. Das quälte ihn. Manchmal sehnte er sich sogar zu den schmierigen Wesen zurück, von denen er keine Unterhaltung erwarten konnte. Sie behandelten ihn wie ein Tier oder Insekt, das man nur verscheucht, aber nicht tötet.
Natürlich hatte er überlegt, einen Arzt zu konsultieren. Markus glaubte aber an seine selbstheilenden Kräfte. Außerdem traute er Ärzten nur bei leichten Beschwerden. Vor allem, wenn es um das Organ unterhalb der Schädeldecke ging. 'Er ist verrückt', war zu leicht zu sagen und beliebige Medikamente ließen sich sicher finden und probieren. Nein, er wollte kein Versuchskaninchen mehr sein. Die Zeitspiegelung hatte ihn gebrannt. Seine Angst, eingesperrt zu werden, war dagegen noch das kleinere Hinderniss. Außerdem wollte er nicht über die Zeitspiegelung reden, unabhängig davon, dass er einer Schweigepflicht unterlag, die ausdrücklich auch gegenüber Ärzten galt.
Sarah widmete sich weiter dem Anbau von Kartoffeln und freute sich über die große Menge gezogener Wurzeln. In einem großen Korb versammelt sahen sie aus wie totes Gewürm. Der kleine Acker vor ihr strahlte dunkel und verlangte Kartoffeln, die er mehren wollte. Sie erwartete nicht, dass Mark plötzlich redselig werden wollte. Aber ihre Frage würde er voraussichtlich noch beantworten. So kannte sie ihn, er hatte niemals offene Fragen zurück gelassen, jedenfalls nicht wortlos. Andererseits, er hatte sich verändert. Die Sonne schien glücklich über blauem Himmel und ihre ungeschützten Hände griffen weiter nach Wurzeln, schlugen die Erde von ihnen ab und setzten 'Erdäpfel', wie sie gerne aus dem Französischen übersetzte. Endlich verriet er: „Ja, ich kenne meinen Traum.“ Das hörte sich so bedeutungsvoll an, dass Sarah nicht sicher war, ob sie jetzt von 'seinem Traum' erfahren wollte. Sie hatte Angst um ihn. Das konnte sie sich eingestehen, ihm aber nicht zeigen. Ein Traum. Warum nicht Träume? Sie wagte nicht, ihn anzusehen. „Ein Traum?“, fragte sie und sah weiter in die Erde vor ihr, zog wieder eine Wurzel und ließ die Frage beiläufig gestellt erscheinen, wie von nicht allzu hoher Bedeutung. Obwohl sie vom Gegenteil überzeugt war. Die Bedeutungspause hatte er sehr platziert gesetzt, er war vermutlich nach wie vor ein brillanter Redner, wenn es darauf ankam. Nach einer Weile erneuten Schweigens sah sie ihn an und suchte Auskunft aus seiner Körperhaltung. Er saß stabil mit aufrechtem Rücken. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt, seine wohl bewährteste Geste, um sich innerlich zu schützen. Mark starrte hinüber zum Tulpenbeet, das Sarah in der Woche zuvor angelegt und mit vorgetriebenen Zwiebeln bestückt hatte. „Ich setze jede Farbe“, hatte sie stolz betont, „sogar Blau.“ Ihr Blick blieb ebenfalls an dem Beet hängen. Beide stellten sich wortlos die erwartete Farbenpracht vor. Sarah sah dass imaginäre Blau wie in einem Traum vor sich und wünschte sich doch, mehr über Marks Traum zu erfahren, hoffte aber auch, dass es nicht verstörend werden würde, sei es für sie oder für ihn. Dass er überhaupt 'seinen' Traum erwähnt hatte, stimmte sie natürlich auch optimistisch. Wiederkehrende Träume zu analysieren, hatte nach ihrer Auffassung einen erheblichen, wenn nicht sogar überdurchschnittlichen therapeutischen Wert. Sie würde sich ohne Weiteres einer Hypnose unterwerfen, hatte sie stets eingeschätzt, ihm diesen Vorschlag aber nicht gemacht, zumal sie bis dahin nichts von seinen Träumen wusste. Sie war gewillt, keine weiteren Fragen zu stellen. Ihre Angst, ihn in eine immer stärkere Verschlossenheit zu drängen, konnte und wollte sie nicht überwinden. Wenn er jetzt etwas sagen wollte, würde er das auch ohne weiteren Anstoß tun, war sie sich sicher. Aber sie wartete jetzt auf weitere Erklärungen, vor dem Hintergrund der bunten Blumen in ihrer Phantasie und ihren bilderlosen Erwartungen an seinen Traum. „Ich war in den Mondgruben“, sagte er und starrte weiter hinüber zum Tulpenfeld. Ohne ihren Blick vom Tulpenfeld zu nehmen, dessen geträumte Farben zu schwinden begannen, baute sie vage Vorstellungen von Mondgruben in ihrem Gehirn auf. Es gab nicht viel aufzubauen. Sie war nicht einmal auf der Erde in Gruben gewesen. Unverfänglich fragte sie: „Wie sehen Mondgruben aus? Wieso Mondgruben, warum keine Marsgruben?“ Er überging die Frage. Sein Zeitspiegelbild wollte er nicht erwähnen. Der sollte in die Mondgruben verbannt werden. Wie lange wusste er nicht. Vielleicht sogar lebenslänglich. Oder zwanzig Jahre. Der Traum jedenfalls endete nach zwanzig Jahren. Er begann, langsam und deutlich zu berichten, als wollte er die Worte zu Sarah hinüber schweben lassen. „Es sind gegrabene Röhren. Im Durchmesser vielleicht zwei Meter. Mit vielen Abzweigen und verschiedenen Ebenen.“ Sarah kam er wie in Trance vor. Das hatte sie nicht erwartet, zuvor noch an Hypnose gedacht, aber nicht geglaubt, ihn so zu erleben. „Es gab nur wenig Licht. Die Wände waren gelb. Und schmierig. Ich hatte einen Raum für mich alleine. Er war trocken. Und viel höher als in den Röhren. Mit vielen Büchern.“ Während Markus erzählte, erlebte er seine Worte und schuf mit ihnen eine für Sarah vorstellbare Projektion seiner Erlebnisse in den Mondgruben. Seinen Raum stellte sie sich wie die Kathedrale einer langgezogenen Höhle vor. Ein synthetisches Lichtfeld sorgte für Marks notwendige Bestrahlung mit ultraviolettem Licht. Weitere Lichtquellen waren nur das Licht seiner Kamera mit dem Handladegerät und die leuchtenden Wesen. Nur ein einziges Mal, er war bestimmt schon seit zwei Jahren dort, kam er an die Oberfläche. Die Sauerstoffverschlüsse über den Gruben mussten gewechselt werden, dazu musste vollständig evakuiert werden. Sonnenlicht blieb ihm aber verborgen, es war Nacht. Und auch den blauen Planeten sah er nicht. Aber einen grandiosen Sternenhimmel. Nie zuvor hatte er sich so sehr als unmittelbaren Bestandteil des Universums erlebt. Mit einer Kombiplexkugel auf dem Kopf und einem festen Raumanzug tanzte er auf dem Mond und genoss seine enorme Leichtfüßigkeit. An diesem Tag war das der schönste Tag seines Lebens. Später sehnte er sich natürlich immer wieder an die Oberfläche, aber es blieb der einzige Besuch dort oben. Die Roboter hatten gute Arbeit geleistet, nie wieder musste etwas an den Sauerstoffverschlüssen gemacht werden. Sarah war von Marks Schilderungen fasziniert. Er berichtete so authentisch, dass sie zu glauben gewillt war, er sei tatsächlich dort gewesen. Sie stellte sich die blauen stählernen Sprossen vor, auf denen Markus von Ebene zu Ebene kletterte und im Laufe der Jahre Wegzeichen in die Wände kratzte und Karten anlegte. Er fand weitere Kathedralen, in denen die Grubenwesen lebten. Nach einer Weile entdeckte Markus auf seinen Karten, dass sie in größeren und kleineren Ansiedlungen wohnten und die Verbindung zwischen ihnen eher Notwege waren. Diese waren deutlich kleiner im Durchmesser und nötigten eine gebeugte Körperhaltung ab, um in andere Ansiedlungen zu kommen. Er begann deshalb, die familiären Strukturen zu beobachten und erkannte kollektive Bindungen, die zwar distanziert waren, aber scheinbar informativen Zwecken dienten. Gelegentlich versammelten sich Einzelne aus verschiedenen Ansiedlungen und saßen beieinander, ohne sichtbare Regungen. Markus konnte einige von ihnen sogar wiedererkennen. Er glaubte es jedenfalls. Die Form ihrer Köpfe und Gliedmaßen schienen einer Individualisierung zugänglich zu sein. Wie sie sich verständigten, blieb ihm verborgen. Sie gaben keine für ihn wahrnehmbaren Laute von sich. Auch eine Körpersprache war für ihn nicht erkennbar. Er vermutete, dass sie im hoch- oder niederfrequenten Bereich kommunizierten oder Strahlungsfelder um sich hatten und auf dieser Ebene ein Austausch stattfinden müsse. Froh, dass es keine Feindseligkeiten zwischen ihnen gab, zumindest keine offenen, gab er sich seinen bescheidenen Forschungen hin. Sie duldeten es. Wenn er ihnen nicht zu nah kam. Näher als einen halben Meter ließen sie ihn nicht an sich heran. Sie zuckten zurück, wenn er diese Distanz erreichte, und scheuchten ihn mit souveränen Armbewegungen wieder auf Abstand. Nahrung nahmen die Wesen niemals sichtbar zu sich. Da sie so schmierig wie die Wände waren, vermutete Markus, dass die Nahrung in den Wänden war und über die Gesichtsöffnung aufgenommen wurde. Oder sie wurde über die sichtbaren Muskelstränge absorbiert. Er beobachtete nämlich nie, dass sie sich durch den Mond oder Mars oder was auch immer fraßen. Die Grubenwesen waren nackt, mit sehr kleinen Genitalien. Säuger waren sie augenscheinlich nicht. Eine Geburt sah Markus nie, aber Schwangerschaften konnte er erkennen. Einer Schwangeren bis zur Geburt zu folgen, gelang ihm jedoch nicht. Er wurde verscheucht. Vielleicht legten sie sogar Eier. Dann hätte er aber ein Nest finden müssen, deshalb glaubte er nicht daran. Außerdem sah er sie trotz aller Eigenart immer als Menschenwesen an. Marks Nahrung waren täglich zwei Schüsseln geschmackloser Brei. Jeden Tag, zwanzig Jahre lang. An Mangelerscheinungen litt er aber nie, er fühlte sich immer körperlich gesund. Die Nahrung kam aus einem Schacht aus dem Boden, dessen Verlauf er nicht verfolgen konnte. Die Notdurft musste er auch in einen Schacht verrichten, in dessen Nähe ein Rohr spärlich Wasser spendete. Dazu war eine kleine Handpumpe zu bedienen. Er gewöhnte sich daran, ebenfalls nackt zu sein. Niemand beobachtete ihn, es gab keinen Grund für Schamgefühle. Und kalt war es nicht in den Gruben, die Temperatur war angenehm wohlig, fast zu warm. Kleidung brauchte er nicht und es gab sie nicht. Kulturell war er mit Romanen und Sachbüchern ausgestattet. Trotz aller Tragik war Sarah belustigt, als Markus berichtete, wie er am ersten Tag in seiner Kathedrale auf dem einzigen Tisch des Raumes den Roman 'Der Graf von Monte Christo' vorfand. Für die aktive Literatur hatte man ihm antiquierte Schreibutensilien zur Verfügung gestellt. Aber er schrieb kaum. Er zählte die leeren Blatt Papier, die er hätte beschreiben können. Schon als er den Stoß Papier sah, war ihm klar, dass er sich die Zeit, zu zählen, nicht nehmen musste, er hatte sie. Und er musste sie vertreiben, vernichten und vergessen. Ein Schrank für seine wenige Habe wirkte in dem etwa fünfzig Quadratmeter großen Raum sehr wuchtig. Neben einem Stuhl zu demTisch gab es abgesehen von den langen Regalen mit Büchern nur noch die Schlafstätte mit einer erstaunlich bequemen Matratze auf einem grasgrünen Sockel. Der Sockel war aus einem ihm nicht bekannten Material. Es erinnerte ihn an die Wände der Versammlungshalle, in der er als Zeitspiegelbild war - oder in achtundzwanzig Jahren sein könnte. Möglicherweise war es das gleiche Material, weich, wohnlich und behaglich.
Seine Fotokamera nutzte er vornehmlich für experimentelle Bilder. Weil nahezu alles gleich aussah. Für ihn gab es aber immer eine alternative Perspektive. Darüber wunderte er sich. Es fühlte sich an, als hinge alles Denkbare ausschließlich von der Betrachtung ab. Nur wenn er etwas gesehen hatte, war es auch existent. Und diese Existenz ließ sich beliebig oft aus allen erdenklichen Perspektiven überprüfen. Erstaunt war er, sogar Glück empfinden zu können. Nämlich darüber, dass er unendlich viel Speicherplatz und ein Handladegerät hatte. Glücksgefühle waren in dieser Umgebung so kostbar, dass er sie kreativ mit schöpferischen Perspektivenwechseln hegte und pflegte. Oben und unten, rechts oder links waren bedeutungslos.
Von den Büchern habe er während seines Mondaufenthaltes hunderte gelesen. Gezählt habe er sie nicht. Vielleicht ein Drittel dessen, was in den Regalen der Kathedrale gestanden habe. Den 'Graf von MonteChristo' habe er nicht gelesen. Sarah spürte die Einsamkeit, die Mark in seinem Traum empfunden haben musste. Sie sehnte sich plötzlich nach Petra. Der fruchtbare Acker vor ihr verwandelte sich in eine Leinwand, auf der sie ihre Tochter hüpfend über eine kniehohe Wiese laufen sah. Sie drehte sich, ließ ihre langen blonden Haare im Wind wehen und lachte. Mit hoch gestreckten Armen rief sie: „Mama, hier bin ich, in den Blumen, ich bin eine Biene. Siehst Du mich? Fang mich doch! Fang mich doch!“ 13
Der Rechner für das Netzwerksystem im Institut für materielle Verschränkung glich in ständigen Arbeitsprozessen in Nanobruchteilen von Sekunden die vollständigen Daten aller im System erfassten Personen ab und schickte sie durch Datenfilter für 'besondere Begabung', 'besondere Merkmale', 'Interessen', 'Ausbildung' und dergleichen, um Profile für die weitere Verwendung anzulegen. Erwin Nielke legte als Institutsleiter größten Wert auf die Vorauswahl durch den Rechner. Natürlich war mit dem ununterbrochenen Programmdurchlauf auch eine Sicherheitsprüfung verbunden. Auffällige Daten wurden im Durchlauf vor Erreichen der Personaldienststelle blockiert und zur näheren Prüfung an die Sicherheitsdienstleistungsabteilung geleitet. Auffällig war beispielsweise, wenn eine Person mehrere, nicht zwingend zusammenhängende Verknüpfungen mit dem Institut hatte. Oder eine sogenannte Querverbindung, also eine solche, bei der in Bezug auf verschiedene Personen Verknüpfungen mit dem Institut bestanden und diese Personen ihrerseits eine Beziehung zueinander hatten, unabhängig von der Natur und Kenntnis dieser Verknüpfungen und Beziehungen. Wenn solche Voraussetzungen vorlagen, begann am Terminal des zuständigen Dienstleisters der Sicherheitsabteilung ein rotes Signallicht zu glimmen. In diesem Fall musste der Sicherheitsdienstleister die Daten unverzüglich persönlich sichten und den Vorgang an den nächst höheren Sicherheitsdienstleister melden, erforderlichenfalls eine vorläufige Sperrdatei einrichten. Das System gewährte dreißig Minuten, binnen derer der Datendurchlauf zur Personaldienststelle blockiert war. Erhielt das System keine Bestätigung durch die eingerichtete Sperrdatei, wurde die Blockade automatisch gelöscht. Die Personendateien wurden unter Ausweisung der Verknüpfungen an die Personaldienststelle weiter geleitet und das Signallicht begann zu blinken.
Als Alexander Bogard Petra Wagners Akte mit dem letzten Tastendruck für die Datenverarbeitung frei gab, hatte Eduard Freede Dienst am Sperrdateisystem. Er war der Fünfte Sicherheitsdienstleister und spürte eine aufsteigende Erektion. Er fühlte sich zwar wohl in seiner Uniform, aber der Job langweilte ihn. Ständig musste er die Systemanzeigen im Auge behalten, die in den zwei Jahren seiner Tätigkeit für das Institut nicht ein einziges Mal ein wirklich besonderes Vorkommnis angezeigt hatten. Er glaubte schon nicht mehr, dass überhaupt eine relevante Aktion von ihm erwartet wurde. Die Einweisung in die Tätigkeit war wenig informativ gewesen. Selbst in den folgenden Monaten der Anstellung konnte er keine wesentlichen Entwicklungen der Informationsdichte feststellen. Er machte sich darüber keine Gedanken. Geheimniskrämereien vermutete er schon gar nicht. Die Arbeitseinstellung im Institut schien geradezu unumstößlich optimistisch geprägt, als könnten keine Sicherheitsrisiken auftreten. Sein Vertrauen in die Sicherheitskonzeption war groß. Obwohl er so gut wie nichts darüber wusste. Es war so groß, dass er Gedanken an etwaige Sicherheitsrelevanzen eingefroren hatte und sich ausweichend seiner Last widmete, Lust empfinden zu wollen, eine Lust, die er nicht steuern konnte. Mit mittelalterlichen Kunstwerken hatte er einst angefangen. Nackte kindliche Körper waren schon immer Objekte lüsterner Begierde. Es gab Unzählige zu betrachten. Eduard Freede sah in den Werken großer Meister in gewisser Weise eine Legitimierung für seinen Voyeurismus, wie er es bezeichnet hätte. Obgleich er auch schon daran gedacht hatte, persönlich an eines seiner Opfer Hand anlegen zu wollen. Die Schwelle von der alten Kunst zum neuen Porno nahm er nur fließend wahr. Bemerkenswert war, dass er sich sogar an eine Beratungsstelle gewandt hatte, als er seine Neigungen entdeckt und auszuleben begonnen hatte. Nach fünf Sitzungen war ihm mitgeteilt worden, er sei nicht pädophil, vielmehr habe er psychopathische Auffälligkeiten. Man empfahl ihm eine psychologische oder psychiatrische Behandlung. Es sei zu differenzieren. Die Pädophilen sähen das Kind in seiner zarten Gestalt, die auf sie erotisierend wirke. Es sei lernbar, damit umzugehen, ohne sich seinen Trieben hinzugeben. Letztere hingegen sähen und wollten ein Opfer, über welches Allmacht ausgeübt werden könne. Eduard Freede verstand den Unterschied nicht. Er hielt sich nicht für psychopathisch. Von einer solchen These hatte er noch nie gehört. Die Behauptung, er sei ein Psychopath, hatte ihn wütend gemacht. Abgesehen davon, dass ihm auch gesagt worden war, er sei nicht pädophil. Aber seitdem lebte er seine Neigungen mit von ihm anerkanntem Arger aus und gab den Beratungsstellen Schuld an der Entwicklung. Deren Inkompetenz, redete er sich immer wieder ein, hatte ihm freien Lauf gelassen. Bis Eduard Freede endlich sein Ejakulat los war, hatte er gut zwanzig Kinder missbraucht. Für zwanzig Kinder brauchte er etwa dreißig Minuten. Die Beseitigung der Spuren seiner Aktivitäten nahm noch ein wenig Zeit in Anspruch. Dann entdeckte er das Blinken der kleinen roten Leuchte, etwa vierzig Minuten nachdem ein Sicherheitsfall aufgetreten war, der sich seit etwa zehn Minuten in der Personaldienststelle befand. Er musste mit Fragen rechnen. Bevor Freede die Meldung über den Sicherheitsvorfall an den Vierten Sicherheitsdienstleister weiter gab, verlor er weitere Minuten, weil er sich erst eine Erklärung für sein Versäumnis einfallen lassen musste. Er erklärte kurzerhand, er sei eingeschlafen. Das war zwar eine schwere Verfehlung, aber besser als die Wahrheit. Eine vorteilhaftere Ausrede fiel ihm nicht ein. Außerdem hörte es sich sehr glaubwürdig an, zuzugeben eingeschlafen zu sein.
Den Vierten Sicherheitsdienstleister traf zwar keine Schuld an dem Versäumnis, aber auch er brauchte seine Minuten. Er hielt es für sachgerecht, den Fünften Sicherheitsdienstleister zu sich zu zitieren und derweil die Daten zu sichten. Es ging um Petra Wagner, Klon von Sarah Wagner, ungeklärte Beziehung zu Markus Wagner. Die Daten enthielten außerdem einen Sperrvermerk, für den er keine Zugriffsberechtigung hatte. Mit den lesbaren Daten konnte er nichts anfangen. Eine handfeste Sicherheitsrelevanz war ihm nicht ersichtlich, zumal er noch nie etwas von Sarah und Markus Wagner gehört und keinen Zugang zu den Daten dieser beiden Personen hatte. Er wusste, dass Klone für das Institut von besonderem Interesse waren. Den Grund für dieses besondere Interesse kannte er aber nicht. Es interessierte ihn auch nicht sonderlich. Er war für die Sicherheit zuständig. Das genügte ihm. Nachdem der Vierte Sicherheitsdienstleister seinem Untergebenen, der binnen weniger Minuten erschienen war, unter vier Augen lautstark eine Rüge erteilt hatte, ohne dass damit eine sachliche Verbesserung der Situation verbunden gewesen wäre, gab er den Vorgang endlich an den Dritten Sicherheitsdienstleister weiter.
Der Dritte Sicherheitsdienstleister besaß wie seine Untergebenen zu wenig Mut und Souveränität, um sofort den Zweiten Sicherheitsdienstleister zu informieren. Auch er ließ weitere Minuten verstreichen, um zunächst den Dateninhalt dahingehend zu prüfen, welche Versäumnisse der ihm nachgeordneten Sicherheitsdienstleister auf ihn zurückfallen könnten. Er hatte zwar auch keinen Zugriff auf alle Sperrvermerke, wusste aber immerhin, dass Klone für die Zeitspiegelung vorgesehen waren, weil man sie für besondere wissenschaftliche Erkenntnisse nutzen wollte. Sichtbar war auch der Vermerk, dass ein Aushang in der Universität gezielt der Anwerbung der betroffenen Person gedient hatte. Das deutete in der Tat auf eine äußerst bedeutsame Person hin und beunruhigte ihn. Die Information, dass Sarah und Markus Wagner die Originale von Zeitspiegelbildern waren, interessierte ihn schon nicht mehr. Er wollte den Vorgang schnellstens loswerden.
Erst der Zweite Sicherheitsdienstleister hatte Zugriff auf den weiteren Sperrvermerk. Danach war Petra eine Empathische, die vor allem aus diesem Grunde für das Institut geworben werden sollte. Aus dem Vermerk ging auch hervor, dass die genetisch angelegte Empathie auf über zwanzig Jahre alte 'verbindliche geheime Anweisungen an das Institut für menschliche Reproduktion mit höchster Geheimhaltungsstufe' gründete. Danach konnten weder sie noch ihre Eltern wissen, dass sie eine Empathische war.
Erster Sicherheitsdienstleister war Willi Moos. Er bemühte sich sehr, die Fassung zu wahren, als er den Namen Petra Wagner las. Dass er seinem unmittelbaren Vorgesetzten Erwin Nielke über den Besuch der Tochter von Sarah Wagner im Hause zu berichten hatte, lag ihm schwer im Magen. Insbesondere, dass die Anwerbung automatisiert war und er über diesen konkreten Vorgang keine Kenntnis hatte. Noch schlimmer war, Nielke, den er nicht ausstehen konnte, auch noch erklären zu müssen, dass sich die Observation der Wagners ausschließlich auf Sarah und Markus Wagner konzentriert hatte.
Erwin Nielke war außer sich vor Wut. „Verdammt nochmal! Moos, was ist los mit Ihnen? Petra Wagner ist im Haus und Sie wissen das nicht!?“ „Wir wissen nicht, ob sie noch im Haus ist.“ „Sie wissen es nicht? Was wissen Sie überhaupt? Wofür werden Sie bezahlt?“ „Entschuldigen Sie bitte, aber ...“ „Ich entschuldige überhaupt nichts“, schrie er, „glauben Sie, ich habe Lust, mein ganzes Projekt, mein ganzes Leben den Wagners zu opfern. Das sind doch Wilde, die keinen Sinn für die Zukunft und ihre Entwicklung haben. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn die Steuerung der Zukunft durch uns an der großen Glocke hängt. Die Wagners sind unberechenbar. Kapieren Sie das nicht?“ „Entschuldigen Sie, ich ...“ „Hören Sie endlich auf mit Ihren beschissenen Entschuldigungen. Womöglich hat sie sogar schon ihren Chip erhalten. Das sind keine Unterlagen, die in Wagners Hände gehören. Schaffen Sie mir diese Göre her, aber schnellstens.“ „Hierher? Direkt zu Ihnen?“ „Verdammt nochmal, wohin sonst!? Zu Ihnen vielleicht? Halten Sie sich ernsthaft für befähigt, das Problem zu lösen?“ „Ich...“ „Vergessen Sie es“, unterbrach Nielke diesmal mit ruhiger Stimme, „bringen Sie sie her“ und hauchte für Willi Moos deutlich hörbar „Stümper!“ hinterher. „Jawohl“, gab Moos mit eingefallener Haltung und zerknirschtem Gesicht von sich. Wenigstens nicht wieder dieses bescheuerte Jawoll, dachte Nielke und wandte sich seinem Schreibtisch zu, ohne Moos weiter zu beachten. Er opferte seine weiteren Gedanken der Frage, was zu tun war, wenn sie sie hatten.
Seit Bogards letztem Tastendruck waren gut sechzig Minuten vergangen. Auf dem Flur richtete Moos sich auf, glättete seine Gesichtszüge und begann, seine Abneigung gegen Nielke zu Hass mutieren zu lassen. Den Zweiten wies er über den Kommunikator in zackigem Befehlston an, sofort die Sicherheitsschleusen zu schließen und Petra Wagner ausfindig zu machen. Den Dritten nannte er einen hirnrissigen Idioten, der gefälligst dafür zu sorgen habe, dass seine Untergebenen ihre Arbeit ordentlich erledigen. Und den Vierten ließ er die interne Sicherheitsdienstleistungspersonalakte des Fünften zu sich durchstellen. 14
"Guten Tag, Frau Wagner, ich bin Professor Heimstein. Willkommen im Testlabor." Der Professor war eine freundliche Erscheinung mit leichtem Übergewicht und einer für sein großes rundes Gesicht zu kleinen Brille. Petra wunderte sich über seinen weichen Händedruck, der nicht zu der stattlichen Statur passte. Gutmütig und intelligent wirkte er. Von ihm ging eine Sicherheit aus, die Petra gerne annahm, auch wenn sie sich am liebsten in Alexander Bogards Armen gesehen hätte. Gerne hätte sie ihre Gedanken an ihn festgehalten, anstatt sich auf irgendwelche Tests zu konzentrieren. Professor Heimann kam jedoch gleich zur Sache. „Wir machen nun einige Tests mit Ihnen, damit wir Ihre Eignungskapazitäten ausschöpfen können. Es geht um Aufnahmefähigkeit, Reaktion, kognitive und assoziative Intelligenz, etwas Fachwissen, Geschicklichkeit und solche Sachen. Ganz einfach, nicht dramatisch, Sie werden das sicher meistern.“ Er lächelte zuversichtlich und führte Petra zu einer Kabine, die in der Mitte einer kleinen Halle stand. Durch Bullaugen konnte sie ins Innere sehen. Wenn die Kabine nicht so kolossal robust und eiförmig gewesen wäre, hätte sie angenommen, dass es ein Sprachlabor war. Sie sah darin einen Bildschirm, Lautsprecher, einen kleinen Schreibtisch mit einem Eingabegerät und einen Stuhl. Professor Heimstein ließ einen Hauch Stolz frei, als er die Tür zu der Kabine öffnete. Die Wandung war panzerartig. „Sie sind zwar noch sehr jung, aber vermutlich wissen Sie bereits, dass Zeit immer zu knapp ist. Deshalb bitte ich Sie, die Tests in diesem Beschleuniger zu machen. Die Apparatur sieht für Außenstehende vielleicht nicht ganz ungefährlich aus, aber ich versichere Ihnen, es bestehen keine Gefahren für Leib oder Leben.“ Petra fragte etwas belustigt: „Ein Beschleuniger? Kann ich darin schneller denken?“ Professor Heimstein lächelte. „In gewisser Weise ja. Aber in ihren Nervenzellen werden innerhalb der Kabine keine eiligeren Schlüsse gezogen. Innerhalb der Kabine bewegt sich die Zeit anders als außerhalb. Die Zeit ist bekanntlich relativ. Tragen Sie eine Uhr?“ Petra zeigte ihre Armbanduhr. Der Professor freute sich, eine Uhr mit analogen Zeigern zu sehen. Es war ein Geschenk ihrer Mutter zu ihrem sechzehnten Geburtstag, dem Tag ihrer Volljährigkeit. „Innerhalb der Kabine haben Sie zwei Stunden Zeit, während hier draußen nur zehn Minuten vergehen.. Sie können es anschließend durch einen Uhrenvergleich feststellen.“ Petra war nicht wohl bei dem Gedanken, sich in der Kabine abzukapseln und sich den Kräften des Universums auszusetzen. Etwas aufgeregt, wenn nicht sogar erschrocken, fragte sie: „Ist das eine Zeitmaschine?“ „Nun, einige nennen es Zeitmaschine, ich bevorzuge Beschleuniger.“ „Ich bin nicht sicher, ob ...“ „Sie müssen sich keine Sorgen machen. Der Vorgang hat mit Ihnen nichts zu tun. Sie sind unabhängig von der Zeit. Bei Ihnen werden keine Änderungen eintreten. Sie sind in der Kabine sozusagen in einer Zeitblase. Bei uns und auch bei Ihnen bleibt alles wie gehabt. Der Ort bleibt auch. Ausschließlich die Zeit und der Raum werden sich im Verhältnis zum Außenbereich innerhalb der Kabine anders entwickeln.“ Petra war immer noch beunruhigt. Sie stellte sich vor, dass sich der Raum verzerren könnte und ihr Grimassen in das Gesicht zeichnen würde. Von außen betrachtet! Durch die Bullaugen! Oder was, wenn man unerwartet beobachten würde, dass sie sich auflöst, in der Raumentwicklung davon getragen wird?! Oder die Zeit wäre falsch eingestellt und plötzlich wären dreißig Jahre futsch! Professor Heimstein registrierte Petras größer gewordenen Augäpfeln. „Ich weiß, was Sie jetzt denken. Wirklich, wir haben das schon unendlich oft gemacht. Das ist kein Experiment. Ich erkläre es Ihnen. Sie müssen sich den Raum unabhängig von einem Ort vorstellen. Der Raum kann sich sozusagen von einem Ort fortbewegen. Hier allerdings nicht, weil er in der Kabine gefangen wird. In den Hohlräumen des Kabinenmantels wird der Raum geglättet, also gestreckt und in eine andere Wicklung gebracht. Dadurch kommt der Raum innerhalb des Mantels in Bewegung. Und weil wir hier eine Eierform haben, kommt es zu einer besonderen Rotation, die zwar den Raum innerhalb der Kabine mitzieht, nicht aber die Zeit. Sie schweben gewissermaßen auf einer gedehnten Zeitmatte. Und: Der Innenbereich bleibt von der Rotation verschont, der Raum dort wird nur gedehnt. Das macht sich aber nur auf der Zeitebene bemerkbar. Weil es ein begrenzter Raum in einer anderen Wicklung ist! Deshalb wird Ihnen mehr Zeit zur Verfügung stehen. Wenn Sie anschließend die Zeitblase verlassen, werden sie wieder in unserer Zeit sein. Nichts wird sich verändert haben, abgesehen davon, dass Sie zwischenzeitlich die Tests absolviert haben werden.“ Es waren weniger die Worte, die beruhigten. Die Erklärung hatte Petra nicht verstanden. Professor Heimsteins ruhige Vortragsform schaffte aber bei den meisten seiner Studenten ein Gefühl der Ruhe und Gelassenheit. Allein seine Stimme konnte Zuversicht und Vertrauen einflößen. Es war deshalb schon schwer, seine Ideen überhaupt anzweifeln zu wollen, geschweige denn, es zu tun, zumal sein Fachwissen mehr als überragend war. Petra kam allmählich in den Sinn, dass Sie Professor Bert Heimstein vor sich hatte. Seinen Vornamen hatte er nicht erwähnt. Aber er war es. Jetzt wusste sie es, Bert Heimstein. Sie kannte das Gesicht. Wahrscheinlich kannten die meisten Menschen dieses Gesicht. Die Entschlüsselung der Zeitwicklung. Klar! Jetzt vertraute auch sie ihm. „Okay, ich mach's!“ „Sehr schön. Dann ans Werk. Wir werden die Bullaugen verdunkeln, sonst werden Sie abgelenkt. Sie wären zu sehr belustigt, wenn Sie hier draußen alles in starker Zeitlupe sehen würden.“ Überrascht fragte Petra: „Würden Sie mich im Zeitraffer sehen?“. „Ja. Ich würde innerhalb von zehn Minuten sehen, was Sie innerhalb von zwei Stunden machen. Viele Bewegungen werden von Ihnen aber nicht erwartet. Zwischendurch werden Sie mal gebeten, einige Fitnessübungen zu machen. Das wäre schon sehr lustig.“ Professor Heimstein zog das an ihm bekannte schelmische Lächeln auf. Aber nur sehr kurz. Er ging sofort wieder zur freundlichen Sachlichkeit über und erklärte: „Die Apparatur ist in gewisser Weise auch ein Körperscanner. Aber nicht visuell. Nur Ihre Körperströme werden abgetastet. Haut, Herz, Lunge, Kreislauf, Nieren, Nerven und natürlich die Gehirnströme. Genau genommen wird jedes Strömchen in Ihrem Körper erfasst. Später sehen wir dann ein vollständiges Diagramm Ihrer Leistungsaktivitäten. Wir schauen natürlich auch auf behebbare Inaktivitäten. Das Ganze basiert auf Dequantisierung, also völlig harmlos.“
Vierzig Minuten nachdem Sam Bogard Petras Akte abgeschickt hatte, saß sie in der Personaldienststelle und hatte einen zweistündigen Test hinter sich gebracht und für ihren Hausausweis bereits für ein Dienstholo posiert. In diesem Haus war man wirklich schnell. Sie war fasziniert. Dennoch überlegte sie, ob sie einem Gefahrenpotential ausgesetzt gewesen war. Dreißig Jahre futsch, war nicht richtig. Bei einer falschen Einstellung bestünde eher die Gefahr, dass sie beispielsweise innerhalb von fünf Sekunden verdurstet wäre, wenn in der Kabine in dieser Zeit fünf Tage vergangen wären. Sie würde ihn wohl Sammy nennen, überlegte sie während sie auf ihren Ausweis wartete. Sie hatte sich tatsächlich aus heiterem Himmel verliebt. Es war das erste Mal. So plötzlich Sehnsucht nach einem fremden Menschen zu spüren, war ihr fremd. Aber sie genoss dieses Gefühl. Und da sie in Kürze ihren Hausausweis in Empfang nehmen sollte, war sie optimistisch, Sam bald wiederzusehen. Wieder streiften ihre Gedanken ihre kleine Zeitreise, bei der alles blieb wie zuvor. Diese Uhr wollte sie nie mehr verstellen, beschloss sie. Sie ging eine Stunde und fünfzig Minuten vor, die Dokumentation dieses unglaublichen Ereignisses. Das Warten erschien ihr jetzt absurd, weil sie gerade Zeit geschenkt bekommen hatte. Nichts hatte sich verändert. Die geschenkte Zeit hatte sie bereits verbraucht, verbrauchen müssen. Sie konnte nicht mitgenommen werden, nur die Resultate aus dem, was sie in der zusätzlichen Zeit getan hatte. Es war kaum zu begreifen. Sie war in einem anderen Raum-Zeit-Gefüge und hatte nichts davon bemerkt.
Petra musste nur fünf Minuten warten. Sie wurde in das Vorzimmer der Personalleiterin gerufen und erhielt dort den ersehnten Hausausweis, einen Speicherchip mit Konzeptdokumenten und verbindliche Vertragsbedingungen mit dem besonderen Hinweis auf strenge Geheimhaltungsvorschriften, die sie eingehend zu studieren habe. Mit der Bitte, sich in einer Woche um neun Uhr morgens zum Dienstantritt einzufinden, wurde sie nach Hause entlassen.
Zeitgleich mit Willi Moos, der sein Büro im ersten Untergeschoss verließ und sich auf den Weg zu Nielke machte, um sich von diesem wegen des verunglückten Auftauchens von Petra Wagner gehaucht als „Stümper“ beschimpfen zu lassen, verließ Petra exakt unter ihm im zweiten Untergeschoss das Vorzimmer der Personalleiterin und überlegte, nochmals in das zehnte Untergeschoss zu fahren, um sich unter stolzer Vorlage ihres Hausausweises bei 'Sammy' zu verabschieden und ihm zu gestehen, wie sehr sie sich auf ein Wiedersehen in der kommenden Woche freue. An den Wänden beider Seiten entlang des Weges zum Fahrstuhl hingen Fotografien mit Unterwasserlandschaften. Sie gefielen ihr. In diese Bilder konnte man eintauchen. Sie vermittelten das Gefühl, die Stille in den Gängen käme nur durch diese Unterwasserlandschaften zustande. Petra war unsicher, ob es angebracht war, Sam Bogard ihre eindeutigen Interessen an ihn als Mann zu offenbaren. Sie hatte Herzklopfen. Es war unbeschreiblich schön. Aber genau so groß war ihre Angst, sich unpassend zu verhalten. Vielleicht wäre es ihm unangenehm. Schlimmer noch, wenn er vergeben war. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Wie selbstverständlich war sie davon ausgegangen, dass er frei war. Dabei war es sogar sehr unwahrscheinlich. Sein gutes Aussehen und seine Ausstrahlung dürften nicht nur auf sie eine große Wirkung entfaltet haben.
Willi Moos war in Eile und hatte keinen Sinn für Bilder an den Wänden. Auf seiner Etage waren Eislandschaften zu sehen. Außerdem hasste er diese eigenartige Stille in den Gängen. Er war froh, wenn er sich nicht im Labyrinth bewegen musste. Ausschließlich auf seine Gedanken fokussiert, eilte er zügig zum Fahrstuhl und fuhr hinunter zu Nielke in das dreiundzwanzigste Untergeschoss.
Petra stand mit weichen Knien vor dem Fahrstuhl und zitterte. Dieses Gefühl war ihr zu stark. Sie entschied, nach Hause zu fahren und beobachtete auf der Anzeigentafel, dass der Fahrstuhl bereits auf dem Weg in das dreiundzwanzigste Untergeschoss war. Sie fühlte sich erleichtert, ihrem Liebesimpuls nicht nachgegeben zu haben und stellte sich das Tageslicht vor, wie es blenden und sie vermutlich die Augen zusammen kneifen lassen würde.
Als Willi Moos das Wort „Stümper“ aus Nielkes Mund vernahm, war Petra die letzte von fünf Personen, die am Ausgang darauf warteten, durch die Schleuse gelassen zu werden. Petra wünschte sich sehr, frische Luft zu bekommen. Die Prozedur schien kurz und unkompliziert. Als sie endlich an der Reihe war, spürte sie jemanden hinter sich, sehr nah, zu nah. Empört drehte sie sich um. Sam Bogard stand hinter ihr und lächelte sie glücklich an. Ihre Empörung wich schlagartig einem Glücksgefühl, das sie als unbeschreiblich bezeichnet hätte. „Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Sie nicht erschrecken. Hoffentlich bin ich Ihnen nicht zu nahe getreten?“, sagte er, weil ihm Petras verflogene Empörung nicht entgangen war. „Nein, auf gar keinen Fall“, bemühte sie sich eilig, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Zu gerne hätte sie ihn in die Arme genommen und geküsst. Sie zog ihn etwas zur Seite, um einer nachfolgenden Person Platz zu machen und seine Nähe zu spüren. „Ich musste etwas frische Luft schnappen und habe gehofft, Sie hier noch einmal zu sehen. Haben Sie Ihren Ausweis?“ „Ja, ich freue mich. In genau einer Woche darf ich das Praktikum beginnen.“ „Sehr schön. Das freut mich.“ Petra wurde mutig. „Glauben Sie, wir werden uns wiedersehen?“ „Das hoffe ich doch sehr. Leider muss ich jetzt wieder in mein Büro, ich habe noch einen Versuch zusammen zu stellen. Eigentlich bin ich schon viel zu spät.“ Petra war geneigt, ihn in eine Unterhaltung zu verwickeln, ahnte aber, dass es besser war, ihn ziehen zu lassen. Eine weitere Person, ein junger Mann in Petras Alter, ging an ihnen vorbei und betrat die wieder leere Schleuse. Sam nutzte die Gelegenheit, sich kurz und bündig, aber mit einem vielsagenden Lächeln zu verabschieden. „So, ich lasse Sie jetzt gehen. Bis bald.“ Mit leicht stockendem Atem ließ sie ihn ziehen. Auf seinem Weg zum Fahrstuhl blickte sie ihm hinterher und bewunderte seinen kräftigen und sportlich dynamischen Körper. Der junge Mann stand noch in der Schleuse, als ein dezentes Alarmsignal ertönte. Im Schleusenbereich blinkte eine rote Leuchte. Sam Bogard folgte seiner natürlichen Neugier, drehte sich um und sah die Kurven eines wohlgeformten Körpers, den er voraussichtlich in naher Zukunft streicheln würde. Bevor er den Fahrstuhl betrat, winkte er Petra noch einmal zu.
Das Schleusenpersonal wies den jungen Mann an, in die Halle zurückzukehren. Mit unwissenden Augen fügte er sich und sah fragend Petra an, die auf ihn einen gelassenen Eindruck machte und von der Verzögerung nicht ernsthaft beeindruckt schien, als wäre sie zuversichtlich, keine wesentlichen Verzögerungen erwarten zu müssen. Petra bemerkte den Alarm kaum, nur wie durch einen Schleier, benebelt und biologisch aufgeheizt. Sie war gefangen von ihren Gedanken an den Mann, der ihre Träume ausfüllen sollte, und ahnte nicht, wie sehr sie involviert war. 15
Markus widmete seine Gedanken wieder stärker den Zeitsträngen. Die Abwesenheit von Petra könnte auch die Normalität, die natürliche Gegenwart sein. Vielleicht hatte sich der Zeitstrang aufgelöst oder war in einem plötzlich begonnenen und dann schleichend auslaufenden Auflösungsprozess. Für Markus war das durchaus denkbar. Er wollte aber nicht darüber reden. Sarah war zu sehr involviert. Es war sogar denkbar, dass sie selbst Teil des Zeitstranges war. Oder gar ein Zweiter, der unabhängig oder verknüpft mit dem anderen an ihm hing. Wenn seine Gedanken auswuchsen, konnte er eine Unzahl von Zeitsträngen ausmachen. Die Zeit löste sich auf. Gelegentlich sah er die Wirklichkeit als eine pure Verknüpfung von unendlich vielen Zeitsträngen, die an einem beliebigen Ort im Universum oszillieren und sich treffen konnten. Deshalb waren andere Lebensvorkommnisse im Weltall nicht zu beobachten. Weil immer eine Verknüpfung von Zeitsträngen auftreten musste. Zeitstränge bewegten sich nach seiner Theorie aber im Regelfall parallel, wobei parallel nicht im zwei- oder dreidimensionalen Raum zu verstehen war, sondern in der Raumzeit und den anhängenden Dimensionen. Das hieße, die Ausdehnung der Materie in drei Dimensionen hätte kaum spürbare Auswirkungen auf eine vierte und fünfte, vielleicht sechste oder wer-weiß-wievielte Dimension, die er nicht beobachten konnte, die niemand beobachten konnte, weil sie sich aus der ersten, zweiten und dritten Dimension heraus nicht beobachten ließen. Er beobachtete gerne Fliegen, die den Absprung von der Fensterscheibe suchten, aber nicht fanden, oder Ameisen auf einer Wanderung auf einem Ballon, immer geradeaus, ohne Ende. Von solchen Gedankenauswüchsen versuchte er schnell Abstand zu gewinnen. Zu groß war seine Angst zu einer dieser Fliegen oder Ameisen zu werden. Manchmal ging ihm durch den Kopf, dass er das Institut für Zeitspiegelung vielleicht niemals verlassen hatte. Er könnte immer noch in der Röhre sein. Vielleicht hielt man ihn bewusst in diesem Zustand, um jegliche Risiken für die Geheimhaltung auszuschließen. Markus schloss nicht mehr aus, dass seine Zeitstränge in Millisekunden zu erleben waren, wenngleich sie über einen Zeitraum von zwanzig Jahren erlebt wurden. Vor allem wusste er nicht, ob er nur eine Millisekunde oder zwanzig Jahre gelebt hatte. Er hatte Angst vor der nächsten Millisekunde, die wieder zwanzig Jahre lang erlebt werden musste. Sein Leben könnte so unendlich lang sein. Wenn er zu weit dachte, konnte er Professor Uhlmanns Prophezeiung über sein vorzeitiges Ableben sogar etwas Positives abgewinnen.
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Erwin Nielke betrachtete die vor ihm auf dem Schreibtisch liegenden Kommunikatoren. Zu gerne wäre er in Aktionismus verfallen, würde Anweisungen erteilen und schnelle Resultate fordern, aber er war noch bei der Suche nach der Lösung seiner Probleme. Petra Wagner, was sollte er mit ihr anfangen? Dabei war nicht einmal sie das Problem. Sarah und Markus Wagner mussten ruhig gehalten werden. Aber er wollte keine Verwicklungen, keine Dramen, keine Probleme dieser Art, keine Probleme irgendwelcher Art. Noch weniger wollte er aber seine Zukunft gefährden, die Zukunft, die er zu steuern beabsichtigte, die Zukunft der Gesellschaft. Seine Gedanken überschlugen sich. Vermutlich waren beide schon heftig bei der Recherche. Markus Wagner wird diesen Kontakt zum Institut nutzen wollen; vielleicht war Petra sogar von ihm instruiert worden, die Zeitspiegelaufzeichnungen zu besorgen; und Sarah wird sich nicht raushalten. Nielke war sich dessen sicher. Er hatte das Gefühl, als bebe der Berg. Dass Petras Anwesenheit nicht problembehaftet sein könnte, konnte er sich nicht vorstellen. Die Möglichkeit, Petra könnte ohne Wissen der von ihm ausgemachten Gefahrensubjekte im Institut sein, zog er nicht mit dem Hauch eines Gedankens in Erwägung. Selbst wenn, er hätte diesen Gedanken sofort als abwegig verworfen. Er griff zu einem der Kommunikatoren und rief Professor Heimstein an. Vielleicht hatte er die Lösung des Problems schon gefunden. Das Spiel mit der Zeit war in allen Konfliktsituationen eine prüfenswerte Option. Zeit konnte Probleme mitunter sogar alleine lösen. Aber mit Heimstein war die Zeit beherrschbar. Und das aktuelle Problem durfte auf keinen Fall sich selbst überlassen bleiben. Ein unkontrollierter Lauf der Dinge wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht nur wirkungslos, sondern desaströs. „Guten Tag, Herr Professor. Nielke am Apparat. Wie geht es Ihnen?“ „Herr Nielke! Vielen Dank, sehr gut. Ich hatte angenommen, wir würden erst wieder in der nächsten Woche auf der Konferenz Gelegenheit zu einem Plausch haben.“ „Ja, unverhofft kommt nicht oft, aber gelegentlich doch. Aber eigentlich wollte ich aus aktuellem Anlass nur anfragen, wie es mit Ihrer Zeitmaschine läuft.“ „Gut, sie läuft und läuft, ohne jede Probleme. Wir kommen mit unseren Forschungen sehr gut voran. Uns ist sozusagen alle Zeit der Welt gegeben, um forschen zu können. Aber Sie wissen schon noch, dass ich die Maschine lieber Beschleuniger nenne.“ „Nein, ich meinte den Verzögerer.“ „Darüber werde ich auf der Konferenz berichten. Die laufende Versuchsreihe ist noch nicht abgeschlossen.“ Nielke hatte wenig Zeit und fragte ohne Umschweife: „Wären Sie heute oder morgen in der Lage, jemanden in eine beschleunigte Zeitkapsel zu stecken?“ „Es ist nicht sicher. Theoretisch, glaube ich, sind wir soweit. Aber die Versuchsreihen sind noch lange nicht abgeschlossen.“ „Könnten Sie?“ „Es ist gefährlich. Sehen Sie, wir müssen den Raum kontraktieren, aber vereinzelt kommt es immer wieder zur Konvulsion des Raumes, das heißt, wir können die Zeit nicht zuverlässig einstellen.“ „Woran liegt das?“ „Wir schaffen es noch nicht, den Massekern stabil zu halten. Im unglücklichsten Falle schaffen wir ein schwarzes Loch und alle Zeit steht still. Jedenfalls in dem Verzögerer. Aber ich wäre ungern in der Nähe eines schwarzen Loches. Außerdem wissen wir nicht hundertprozentig, ob eine Verzögerung Einfluss auf den menschlichen Organismus hat.“ „Aber bei Ihrem Beschleuniger sind solche Einflüsse ausgeschlossen worden.“ „Bei dem Beschleuniger wird nicht mit Masse gearbeitet. Dort wird nur der Raum anders gewickelt. Bei dem Verzögerer hingegen beeinflussen wir den Raum, indem wir eine – sozusagen - Scheinmasse einbringen und kontraktieren. Wir ziehen den Raum zusammen und damit auch die Zeit. Je stärker der Raum verdichtet ist, um so schneller vergeht die Zeit. Zum Beispiel könnte jemand eine Stunde im Verzögerer sein und außerhalb, bei uns, würden drei Wochen vergehen.“ „Aha! Jetzt nochmals die Frage: Können Sie?“ Einer der Kommunikatoren alarmierte. „Entschuldigen Sie, Herr Professor, das ist wichtig. Ganz kurz nur.“ „Aber bitte.“ „Nielke. Bitte kurz, ich bin in einem Gespräch.“ Es war Moos. „Herr Nielke, wir haben sie.“ „Gut. Schicken Sie jemanden mit ihr herunter. Danke.“ „Herr Professor, da bin ich wieder. Also: Können Sie?“ Professor Heimstein hatte sich die Antwort bereits überlegt und antwortete mit Bestimmtheit: „Ich werde nicht!“ „Das war nicht meine Frage. Können Sie es?“ In Bert Heimstein regte sich Verärgerung über Nielkes penetrantes bohren. Das war keine wissenschaftliche Heransgehensweise. Fern der Wissenschaft liegende Erwägungen waren völlig fehlt am Platze und Nielke machte nicht den Eindruck, dass es ihm auf ein positives Forschungsergebnis als solches ankam. Er hatte ihn bereits früher als einen Menschen kennen gelernt, der zwar in großen Zusammenhängen denken konnte, aber keinen ausreichenden Sinn für Detailfragen hatte und vor allem zu sehr auf praktische Anwendungen fokussiert war. Getrieben, wie besessen, kam Nielke ihm vor. Dessen Affinität zur Zukunft wirkte auf Professor Heimstein schon krankhaft, ein Mann, der zu viel Einfluss haben wollte. „Herr Nielke, sie müssen sich bis zur Konferenz in der nächsten Woche gedulden. Entschuldigen Sie mich jetzt, es gibt wichtige Dinge zu erledigen.“ Professor Heimstein legte befriedigt den Kommunikator auf den Tisch und widmete sich wieder seinen neuesten Berechnungen. Erwin Nielke kochte innerlich. Hatte dieser Forscherwichtel ihn doch tatsächlich abgewürgt. Ihn sofort wieder anzurufen, wäre ein Zeichen von Schwäche gewesen. Bis zur nächsten Woche konnte er natürlich auch nicht warten. Vielleicht bestünde in der Kantine eine gute Gelegenheit, ein weiteres Gespräch zu suchen. Eines, bei dem Heimstein für seine Forschungen winseln würde. Er musste ihn irgendwie unter Druck setzen. Es war auch zu klären, wer von beiden ein Gespräch zwischen ihnen auf diese Weise beendet. ... 17
- bald geht es weiter - |
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